Andreas Neumann: Gelehrsamkeit und Geschlecht. Das Frauenstudium zwischen deutscher Universitätsidee und bürgerlicher Geschlechterordnung (1865-1918) (= Wissenschaftskulturen. Reihe III: Pallas Athene; Bd. 56), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 420 S., 8 Farb-, 3 s/w-Abb., 14 Tbl., ISBN 978-3-515-13165-0, EUR 70,00
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Udo Fleck (Bearb.): Die Mainzer Voruntersuchungsakten gegen die Schinderhannes-Bande, Trier: Kliomedia 2004
Gegenwärtig ist von den Studierenden in der Bundesrepublik mehr als jede zweite Person weiblich. Dass Frauen studieren können und dürfen, steht heutzutage außer Frage. Anders verhielt es sich im deutschen Kaiserreich, mitten in der Umbruchsphase von der agrarisch zur industriell geprägten Gesellschaft. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestanden die Regierungen der deutschen Staaten Frauen die ordentliche Studierfähigkeit zu, Jahrzehnte nach anderen Staaten wie Frankreich, Großbritannien oder den USA. Insbesondere seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelte die Studentin sich zum Normalfall an deutschen Universitäten.
In seiner an der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommenen Dissertation widmet sich Andreas Neumann der Frage, wie Frauen schließlich an die deutschen Universitäten kamen. Mit seinem Erkenntnisinteresse steht Neumann nicht allein. Bereits 2015 wählte Marco Birn einen sozialbiographischen Ansatz, um herauszufinden, wer die ersten Studentinnen konkret waren und wie sie sich ihren Platz in der Wissenschaft erkämpften.[1] Anders als Birn will Neumann wissen, welche Diskurstransformationen und Machtverschiebungen notwendig waren, um in Deutschland das Frauenstudium zu ermöglichen (37f.). Dafür untersucht der Verfasser einen bekannten und in der Forschung wiederholt aufgegriffenen Quellenkorpus, nämlich die 1897 von Arthur Kirchhoff veröffentlichten Gutachten von Professoren aus dem deutschsprachigen Raum. [2] Diesen ergänzt er um zahlreiche weitere Beiträge, etwa Zeitungsartikel. Insgesamt basiert die Untersuchung auf ca. 500 Publikationen des deutschsprachigen Raumes zum Frauenstudium aus der Zeit zwischen ca. 1870 und 1912. Dabei konnte er 259 Autorinnen und Autoren sowie 556 indirekte Äußerungen identifizieren und auswerten.
Die Studie behandelt zunächst "soziale Charakteristiken des Diskursfeldes", wer also diejenigen waren, die über das Frauenstudium sprachen (57-136). Der Verfasser stellt dabei Zusammenhänge zwischen sozialstrukturellen Merkmalen und der Einstellung zum Frauenstudium fest: Besitzbürgertum stand dem Frauenstudium eher befürwortend, Bildungsbürgertum eher ablehnend entgegen - mehr Frauen in akademischen Berufen (außer dem Lehramt für Mädchenschulen) bedeutete eben auch mehr Konkurrenz und damit die Gefahr, berufliche Stellungen nicht gewinnen zu können oder an Sozialprestige einzubüßen, wie es vor allem Mediziner gefürchtet zu haben scheinen. Dabei bestätigt Neumann den bereits von Costas in einem 2010 von Trude Maurer herausgegebenen Sammelband gemachten Befund, dass gebildete Ausländerinnen ausnahmsweise zum Examen zugelassen wurden, weil sie nach dem Studium nach Hause zurückkehrten und keine (inländische) Konkurrenz darstellten. [3] Der häufig in jüdischen Familien ausgeprägte "liberale Bildungsgeist" (134) war ebenfalls tendenziell offen für eine Zulassung von Frauen zum Studium. Als Eintrittsbedingung in den Diskurs stellt Neumann ein städtisches, bildungsbürgerliches, protestantisches Milieu mit liberaler oder nationalliberaler Prägung fest. Oder zugespitzter: "Das Thema der akademischen Frauenbildung war eingebettet in bildungsbürgerliche Phänomenstrukturen" (135).
In vielen Textbeispielen konturiert Neumann im dritten Kapitel die Wissensbestände (137-261). Er zeigt auf, welche Spannbreite bei den Denkmustern und Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft bestand und was die (männlichen) Akademiker, die über diese Frage nachdachten, Frauen zugestehen wollten. Klischees und Vorurteile standen dabei stärker im Vordergrund als wissenschaftliche Erkenntnisse, wie etwa eine um die "weibliche Schamhaftigkeit" und Sittlichkeit besorgte Anfrage der Reichsregierung in der Schweiz zeigt (223-225). Aus den zahlreichen Äußerungen der Sprecherinnen und Sprecher des Diskurses arbeitet Neumann drei verschiedene Geschlechtermodelle heraus, die auch Folgen für die Bedeutung der universitären Ausbildung für Frauen hatten. Hier stand die grundsätzliche Frage gleicher Bildungswege für beide Geschlechter im Raum.
Im vierten Abschnitt untersucht Neumann die verschiedenen Argumentationen, die zur Durchsetzung des Frauenstudiums führten (262-340). Dass Frauen ihren Weg an die Hochschulen fanden, ist auch das Ergebnis der massiven Bemühungen von Angehörigen der Frauenbewegung, "die bildungsbürgerliche Öffentlichkeit für ihre Ziele zu mobilisieren" (354). Als die organisierten Interessensgruppen bei der schweigenden Ministerialbürokratie nicht weiterkamen, führten sie die Diskussion über Petitionen in die Parlamente der Länder und bekamen dadurch die Möglichkeit, ihr Anliegen einer allgemeinen Öffentlichkeit begründet darzulegen. Dies erhöhte den Druck auf die Entscheider, eine Lösung zu finden, die dem formulierten Bildungswunsch entgegenkam (ausführlich hierzu 285-300). Zugleich verdeutlicht Neumann die Folgen kulturpessimistischer Topoi einer sich in Richtung Spezialistentum entwickelnden Bildung: Gerade vor diesem Hintergrund erscheint die Frau als Ausnahmestudentin als "der Versuch zur Realisierung des Humboldt Mythos [sic] angesichts von Entwicklungen, die eine allgemeine Realisierung dieses Bildungsideals immer unwahrscheinlicher werden ließ" (353). Damit wurden Frauen zu Projektionsflächen männlicher Bildungsideale, was dazu beitrug, dass an sie weitaus höhere Maßstäbe angelegt wurden als an ihre männlichen Kommilitonen. Obwohl bereits zeitgenössisch Kritik an den Inhalten von Schule und Studium geübt wurde, blieben jedoch strukturelle Reformen aus.
Dennoch hatte die Aufnahme von Frauen an die Universitäten auch Folgen: Gerade die "institutionelle These" kann Neumann bestätigen, nämlich dass das Frauenstudium die "Männeruniversität" stabilisierte. Der Verfasser zeigt, dass im Kaiserreich ein mittlerer Weg gefunden wurde, um Frauen das Studium zu ermöglichen. Die Öffnung der deutschen Universitäten kanalisierte öffentlichen Druck und bewirkte Dynamik. Freilich geschah dies um den Preis, dass die bisherige offenkundige Grenze einer weniger offenkundigeren bei der Weiterverfolgung von Karriereschritten wich (340). Die heute vielfach beklagte "gläserne Decke" scheint hier eine ihrer Ursprünge zu haben. Der Band schließt mit der Zusammenfassung der Thesen, einschließlich möglicher Ansatzpunkte für Folgestudien (351-357), die der Verfasser unter anderem in der Erforschung der real gelebten Identitätsangebote für Frauen an Universitäten in den folgenden Jahrzehnten sieht.
Die intensive Analyse der Diskurse, die im Wissenschaftsbetrieb und seinem Umfeld herrschten, ist ein Gewinn. Deren Verläufe und Schwerpunkte arbeitet der Verfasser anhand von prägnanten Beispielen scharf heraus. Einige Erkenntnisse der Studie sind an sich nicht neu, doch dafür ist nun fundiert, was frühere Untersuchungen anhand vereinzelter Beispiele bloß angenommen hatten. Dazu zählen beispielsweise die erwähnten Zusammenhänge zwischen sozialstrukturellen Merkmalen und der Einstellung zum Frauenstudium. Neumann entwickelt den bisherigen Forschungsstand sinnvoll weiter. Bisherige und neue Erkenntnisse werden kontextualisiert und zeigen dadurch die dynamische Entwicklung einer sich ändernden sozialen Ordnung im Wechselspiel mit Forderungen von Interessierten und Interessensgruppen. Seine Argumentation ist stringent und nachvollziehbar. Neumann weiß zu pointieren, die Methodik zur Diskursanalyse und deren Terminologie beherrscht er souverän. Erfreulich ist die ausführliche Erläuterung seiner Vorgehensweise, deren Ergebnisse er auch in grafischen Darstellungen gelungen darzustellen vermag. Andreas Neumann hat eine ausgezeichnete Studie zu den Anfängen des Frauenstudiums vorgelegt.
Anmerkungen:
[1] Marco Birn: Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland. Das Streben nach Gleichberechtigung von 1869-1918, dargestellt anhand politischer, statistischer und biographischer Zeugnisse, Heidelberg 2015 (Heidelberger Schriften zur Universitätsgeschichte; 3).
[2] Online zu finden unter:
https://archive.org/details/dieakademischef02kircgoog/page/n6/mode/2up.
[3] Ilse Costas: Von der Gasthörerin zur immatrikulierten Studentin. In: Der Weg an die Universität. Höhere Frauenstudien vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Trude Maurer, Göttingen 2010, S. 191-210, hier besonders 191-192 und 203-205.
Andreas Becker