Matthias Peter / Christoph Johannes Franzen / Tim Szatkowski (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1991, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, 2 Bde., XCII + 1906 S., ISBN 978-3-11-076215-0, EUR 154,95
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Seit 1993 gibt es diese international einzigartige Edition: jeweils 30 Jahre nach dem Geschichtszeitraum legt eine Editoren-Gruppe des Instituts für Zeitgeschichte in Berlin Akten zur Außenpolitik in meist zwei dicken Bänden von 1500 bis 2000 Seiten vor. Jetzt ist das Geschichtsjahre 1991 dran. In den Besprechungen früherer Bände ist betont worden, dass die US-Edition FRUS, früher die maßgebliche Serie, seit langem dem Geschichtszeitraum nicht mehr hinterherkommt. Die anderen, zumeist demokratischen Staaten, die sich eine solche Edition leisten, hangeln sich durch Querschnittbände und Sondereditionen durch. Man kann durchaus fragen, ob dies angesichts elektronischer Publikationen noch sinnvoll ist, ob nicht nach Freigabe im Archiv ganze Aktenserien unkommentiert ins Netz gestellt werden könnten - wie es bei den US Presidential Libraries z.T. geschieht. Das mag für einige andere, primär der Innenpolitik gewidmeten deutschen Editionen zutreffen; mit AAPD liegt jedoch eine, die Forschungen weiterhin erheblich erleichterndes strukturierendes Hilfsmittel vor. Auch dieser aktuellen Band steht "mit Authentifizierung" (des institutionellen Zugangs) sogleich online, vorausgegangene Bände bis 1987 sind dort frei.
Das Jahr 1991 war das erste Kalenderjahr seit der deutschen Vereinigung, von daher ein "Normaljahr". Das gilt zunächst editorisch, denn angesichts der historischen Relevanz waren für die unmittelbaren Vorjahre einige frühere, exemplarische sektorale Editionen erschienen, die es den Editoren schwer machten, möglichst nur unveröffentlichte Dokumente publik zu machen. Jetzt ist so gut wie alles neu. Ein Normaljahr war 1991 bedingt auch historisch, weil die deutsche Frage nun international geklärt war; die DDR gab es nicht mehr, auch kein Außenministerium dieses Staates.
Dennoch ging die Geschichte natürlich weiter. Die Charta von Paris vom 21.11.1990 bildete häufig die Richtschnur in Argumenten. Die zunehmende Auflösung der Sowjetunion, zum Jahresende dann vollzogen, rief Sorgen hervor, zumal die Gewalt in den baltischen Staaten. Jugoslawien zerfiel und Deutschland sah sich veranlasst, zum Jahresende Kroatien außerhalb des solidarischen Vorgehens der anderen Europäer diplomatisch anzuerkennen. Gravierend zu Jahresbeginn war der Krieg einer breiten, US-geführten internationalen Koalition gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits - mit indirekter Beteiligung Deutschlands. Im Westen hatten sich NATO und Europäische Union neu aufzustellen (Vertrag von Maastricht 7.2.1992) und offen für künftige Assoziationen zu machen. Das umreißt die größeren Problemkreise.
Dieser Umriss ist auch deswegen leicht zu benennen, weil er auch schon im Band selbst steht: Die Herausgeberinnen und Herausgeber haben sich entschieden, eine 10-seitige Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse des Jahres mit Nennung zentraler Dokumente oder in Zitatschnipseln einleitend voranzustellen. Das ist zu begrüßen und nützlich und erspart es dieser Rezension, Ähnliches zu tun. Schwierig wird es allerdings, wenn an einigen wenigen Stellen Andreas Wirsching, Stefan Creuzberger und Hélène Miard-Delacroix die eigentlich gebotene, möglichst interpretationsfreie Distanz aufgeben. Was man in jeder persönlichen Veröffentlichung akzeptiert, sollte in einer solchen Edition nicht stehen. Da ist etwa vom "Ende des Kommunismus" oder "Fall des Kommunismus" die Rede: gemeint ist das Ende der Sowjetunion und ihres osteuropäischen Herrschaftsbereichs (man könnte doch auch China im Blick haben?). Was die Rolle des deutschen Militärs anbelangt, prägen sie (kursiv hervorgehoben) die Begriffe "Verteidigungslast" bis jetzt, postulieren nunmehr eine "Interventionslast" (Hatte es denn keine Debatten um 1980 zum Vietnamkrieg gegeben?).
Dem Rezensenten sind bei der Lektüre eine Fülle von wichtigen Debatten und Argumentationen untergekommen. Das liegt daran, dass nicht nur die Gesprächsaufzeichnungen von Kanzler Kohl und Außenminister Genscher mit ausländischen Politikern enthalten sind, sondern viele Positionspapiere, Diskussionsgrundlagen und vertrauliche internationale Gespräche in kleinem Rahmen. Dies gilt besonders für die vier Direktoren der politischen Abteilungen ihrer Außenministerien von USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, aber auch für manchen weiten Tour d'horizon bei Minister- oder Kanzlergesprächen. Besonders offen waren die Äußerungen des sowjetischen Staatschefs Gorbatschow (z.B. Dok. 104, 235; 236: G: "weitverbreitete Angst vor Bürgerkrieg und Anarchie", 969)). Viele innenpolitische Sorgen kamen zur Sprache, aber auch die Problematik der Gewaltanwendung in den nach Unabhängigkeit strebenden baltischen Staaten sowie der Ukraine. Der Weg in die Unabhängigkeit der Teilrepubliken, der Aufstieg Jelzins wird in den persönlichen Begegnungen, aber auch in den Analysen und Sachberichten der Diplomaten anschaulich. Zur leidigen Frage, ob es noch Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg gebe, wird eine Bestandsaufnahme gegeben (Dok. 21). Asyl- und Migrationsfragen werden als international anzugehende Fragen relativ häufig zur Sprache gebracht (etwa Dok. 34, 136). Die Einschätzung der Situation in Ruanda (Dok. 45) verweist auf Probleme, die später zum Genozid führten, für Nicaragua oder Südafrika gilt Ähnliches. Eine Vielzahl anderer, regionaler Sachfragen überall auf der Erde fördert wichtige Einblicke zutage - zumal im Lichte späterer Entwicklungen.
Die erste Außenministerkonferenz der KSZE nach der Charta wurde mit viel Erwartungen in einer neuen "Berliner Konferenz" angekündigt (Dok. 212). Sie war dann doch nicht so ergiebig. Bezeichnenderweise werden an dieser Stelle, wie auch in anderen Fällen, nicht die primären Konferenzquellen gedruckt, sondern der ein paar Tage später folgende "Runderlass". Das ist vertretbar, spart Platz gegenüber den manchmal doch recht langweiligen, fast in indirekter Rede gegebenen Staatsprotokollen. All dem liegen zugleich wichtige und je vertretbare Abwägungen der Editoren zugrunde.
Damit sind wir bereits von der Bedeutung, vom Inhalt, auf die Edition übergegangen. Hier ist es angebracht, erneut auf die hohe Qualität der Bearbeitung in Anmerkungen hinzuweisen, durch Querverweise auf vorangegangene Jahre, durch Erschließung weiteren Materials im Archiv, auf Fundorte von Verträgen, Konferenzen, auch auf zeitgenössische Medien oder einfach: auf die angesprochenen Sachverhalte. Das stellt eine fundamental wichtige Kärrnerarbeit dar, die zu loben ist. Dasselbe gilt für das umfängliche Sach- und Namenregister, in dem sich neben Verträgen, Abkommen und Ländern erfreulicherweise zunehmend inhaltliche Sachbegriffe wie etwa "Menschenrechte" einfinden.
Wie mit dem Hinweis auf die erstmals gegebene Einleitung bereits angedeutet wurde, hat AAPD mit diesem Band einen kleinen Relaunch vollzogen. Gerade angesichts der Online-Zugänglichkeit wäre aber zu überlegen, ob nicht Teile ausgelagert (und auch vertieft) werden könnten durch eine hybride Publikation (wie es etwa die analoge Schweizer Edition getan hat): Bei manchen Dokumenten wird nur die einleitende Zusammenfassung gedruckt; sodann gibt es für alle "Anlagen" nur einen Quellenverweis. Zu begrüßen ist, dass die knappe Zusammenfassung, Digest, jedes Stücks im "Dokumentenverzeichnis" gegenüber früher stark verknappt wurde; der Rezensent hält dies schon länger für entbehrlich.
Die Neuerung, Abbildungen aufzunehmen, hat hohes Potenzial und sollte ausgebaut, aber ins Netz verlagert werden. Eine Abbildung wurde bereits oben genannt, eine weitere gibt das Überweisungsformular einer deutschen Zahlung an die Bank of England für den Golfkrieg wieder: was soll diese Kuriosität? Schaubilder, Grafiken aus den Quellen würde man sich mehr wünschen. Ein handschriftlicher Geburtstagsgruß Genschers an Kohl wird gedruckt und auch noch faksimiliert - wozu? Ein Foto der jungen Ministerin Angela Merkel bei einem PR-Besuch gehört hier nicht hin. Die meisten anderen Abbildungen sind die üblichen Staatsfotos von Gesprächen, Gipfelbildern oder gar Begleitprogramm-Schnappschüssen (einige in Farbe). Angesichts einer etablierten Bildwissenschaft bleibt dieser Umgang mit Fotos dekorative Illustration. Eine weitere Neuerung ist ein "Verzeichnis der Personen im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes" auf 20 Seiten, mit größerer Schrifttype (wozu?) als z.B. im Register, aber mit Funktionsangabe, die dann im Register wegfällt. Gerade das scheint mir geringen Informationswert zu haben und ist - wenn überhaupt- besser online aufgehoben.
Die Rezension setzt sich vergleichsweise ausführlich mit technischen Fragen der Edition auseinander. Das sollte nicht verdunkeln, dass die ganze Edition nach wie vor als vorzüglich und einzigartig zu bezeichnen ist und die Bearbeiterinnen und Bearbeiter immense Arbeit geleistet haben - manchmal auch schon zu viele Bezüge anmerkend nachweisen. Doch auch das ist als Kompliment gemeint.
Jost Dülffer