Jason Steinhauer: History, Disrupted. How social media and the world wide web have changed the past, Cham: Palgrave Macmillan 2022, 160 S., ISBN 978-3-030-85117-0, USD 19,99
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Hans-Jürgen Pandel: Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler - aber auch für ihre Lehrer, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2017
Julia Thyroff / Béatrice Ziegler (Hgg.): Die Jugoslawienkriege in Geschichtskultur und Geschichtsvermittlung, Zürich: Chronos Verlag 2020
In der vorliegenden Monographie erzählt Jason Steinhauer (Wilson Center Washington) die Geschichte der "e-history" von Wikipedia bis zur Künstlichen Intelligenz. Dabei diskutiert er die Frage, ob die altherkömmliche "history" noch eine Zukunft hat. Die Zeitspanne, um die es Steinhauer geht, ist relativ kurz, aber der Wandel, den er schildert, atemberaubend. Die e-history beginne mit Wikipedia um das Jahr 2000 nach unserer Zeitrechnung. Das neue Medium habe insofern einen Paradigmenwechsel eingeläutet, als jetzt jedermann und jede Frau mit Netzzugang über Vergangenheit schreiben und gelesen werden konnte. Diese Möglichkeit sei bisher Akademiker*innen vorbehalten gewesen. Expertise in Schule und Hochschule sei jetzt keine Voraussetzung mehr, seine Sicht der Vergangenheit darzustellen. Gleichzeitig habe sich die Recherche zu historischen Themen von den herkömmlichen Printmedien zu Wikipedia verlagert. Die Entmachtung der traditionellen Expert*innen beziehungsweise, um es positiv auszudrücken, die Demokratisierung der Historie, habe sich in der Folgezeit immer deutlicher abgezeichnet. Die Nutzer*innenzahlen und nicht die Expertise der Autor*in eines Beitrags entschieden letztlich darüber, ob eine Information für wahr gehalten werde oder nicht. Um 2010 hätten neue Formate Wikipedia Konkurrenz gemacht, die besonders auf das Teilen alter Fotografien setzten, die auch persönliche Ereignisse zum Beispiel "vor 50 Jahren" zeigten. Facebook habe diesen Marktzugang perfektioniert. Die entsprechenden e-histories seien im Vergleich zu Wikipedia an der einzelnen Nutzer*in orientiert gewesen und hätten auf Emotionen und Nostalgie gesetzt. Facebook sei kurze Zeit später, was die Nutzer*innenzahlen angeht, von Twitter überholt worden, einem Medium, das die Verbreitung von Geschichtsbildern noch einmal beschleunigte. Die Ausrichtung auf die Adressat*innen habe sich verstärkt, ebenso die kommerzielle Nutzung der entsprechenden Seiten. Gleichzeitig sinke die Verweildauer: Die Einträge werden kürzer und entsprechend weniger Zeit widme man ihnen. Das Bedürfnis, Geschichte rasch zu konsumieren, werde ebenso bedient wie geweckt und zur Routine. Produktion und Rezeption der e-histories bedingen sich gegenseitig. Hier setze sich ein Trend fort, der sich bereits bei Wikipedia und Facebook angedeutet hatte. Obwohl und gerade weil Twitter auf Emotionen und Subjektivität setzte, eigne es sich als Mittel politischer Propaganda, wie sich zum Beispiel in der Kontroverse um die Präsidentschaft Donald Trumps gezeigt habe. In dieser Auseinandersetzung engagierten sich sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen Trumps, Historiker*innen, Journalist*innen, engagierte Bürger*innen, ausländische Agent*innen und Trolle, ohne dass die Autor*innenschaft besagter e-histories auf den ersten Blick durchschaubar gewesen sei.
Um 2015 habe Instagram, ein neues Format, immer mehr Marktanteile gewonnen. Es hatte schließlich dreimal so viele Nutzer*innen wie Twitter. Die e-history habe jetzt besonders auf ikonographische Fotographien gesetzt, die direkt mit aktuellen, zum Teil auch politischen Fragen verbunden werden. Es gehe darum, Analogien zu zeigen. Geschichte werde, so merkt Steinhauer kritisch an, von der Gegenwart aus entworfen und nicht mehr wie in der traditionellen Historiographie aus der Vergangenheit heraus rekonstruiert. Die Macht der e-history sei so sehr gewachsen, dass traditionelle Zeitungsverlage und auch Historiker*innen immer stärker auf den Neuigkeitswert achten, den ihre Darstellung der Vergangenheit haben könnte. Die gute oder auch schlechte alte Zeit werde zur Fundgrube des Neuen, Unerhörten und Faszinierenden. Aktuelle Fragen bestimmten das Interesse an der Vergangenheit. Ein solcher Präsentismus sei abzulehnen, müsse doch das, was früher einmal gewesen sei, um seiner selbst willen geschätzt und erforscht werden. Instagram sei gegen Ende der 2020er-Jahre in wachsendem Umfang von einer podcast-Kultur flankiert worden, die die Vergangenheit als Möglichkeitsraum nutzt, eigene Geschichten zu erzählen, die auf die Neugier potentieller Adressat*innen setzen. Das Erzählen ersetze das Verstehen als der zentralen Praxis traditioneller Geschichtsschreibung. Mit der Künstlichen Intelligenz trete man dann in die posthumane Geschichtsproduktion ein, in der Suchmaschinen aus dem digital vorhandenen Material Antworten auf historische Fragen der Nutzer*innen generierten und damit selber Geschichten schrieben.
Steinhauer charakterisiert die digitale neue Geschichte als divers, fragmentarisch, parteilich, demokratisch, retrospektiv, überwältigend, kommerziell, gefühlsorientiert und narrativ. Sie setze vor allem auf die Neugier ihrer Adressat*innen. Das sind für ihn mit geringen Abstrichen negative Eigenschaften. Die e-history breche mit der traditionellen Geschichtsschreibung, daher der Titel des Buches, schmälere ihren Einfluss und zwinge ihr ihre eigenen Strukturen auf. Steinhauer bedauert diese Entwicklung und bricht eine Lanze für eine Historiographie, die mühevoll und zeitraubend von Akademiker*innen geschrieben wird, chronologisch strukturiert ist und wahrheitsgetreue Aussagen macht. Vergangenheit müsse aus sich heraus verstanden und nicht aus der Perspektive der Gegenwart heraus für Rezipient*innen entworfen werden. Ersteres bezeichnet Steinhauer abweichend vom üblichen Sprachgebrauch als die intrinsische, richtige, letzteres als die extrinsische, falsche Herangehensweise. Und an dieser Stelle wird deutlich, wie erschreckend naiv Steinhauer mit dem Begriff Geschichte umgeht. Die Geschichtsschreibung, der er nachtrauert, hat es so nie gegeben. Sie war und ist nicht mehr und nicht weniger als die Vorspiegelung falscher Tatsachen. Epistemologisch gesehen, kann Vergangenheit nicht anders als aus der Perspektive der Historiker*in dargestellt werden. Die Historiker*in schreibt in ihrer Gegenwart. Sie teilt ihre Werte und Normen. Der unaufhörliche historische Wandel macht es unausweichlich, dass diese Gegenwart anders ist als die Vergangenheit. Die res gestae sind unerreichbar. Die historia rerum gestarum kann sich lediglich auf fragmentarische Überlieferung stützen, die ihrerseits standortgebunden auf Geschehenes verweist. Narrationstheoretisch ist Historiographie per se erzählerisch angelegt, weil sie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mit einander verknüpft. Verstehen als Erkenntnisform historischen Denkens ist eine Erfindung der geisteswissenschaftlichen Philosophie. Das entsprechende Denkmodell steht und fällt mit den damit verbundenen, heute eigentlich obsoleten theoretischen Prämissen. Wenn es auch zum Teil zutrifft, dass die traditionelle Geschichtsschreibung sich lediglich auf einen bestimmten Forschungsdiskurs beschränkt hat, ob das nicht zu engstirnig ist, wäre zu diskutieren, so ist das weite Feld der Geschichtskultur immer schon das gewesen, was Steinhauer als Alleinstellungsmerkmal der e-history zuschreibt. Historische Spiele, Romane, living history, reenactment, Denkmäler und so weiter sind divers, fragmentarisch, parteilich, demokratisch, retrospektiv, überwältigend, kommerziell, gefühlsorientiert und narrativ. Und Neugier ist ein zentrales Element historischen Denken sowohl was die Rezeption als auch die Produktion von Geschichten betrifft. Alles in allem ist die e-history die Fortsetzung traditioneller Geschichtsschreibung mit anderen Mitteln, einer Geschichtsschreibung, die sich in ihrer jahrhundertelangen Entwicklung selbst in einem derartigen Maße gewandelt hat, dass die e-history letztlich nicht aus dem Rahmen fällt. Meine Kritik an seinem kurzsichtigen Umgang mit den Begriffen "Geschichte" und "Geschichtsschreibung" soll jedoch die eigentliche Leistung Steinhauers nicht verdecken. Sie besteht in der Geschichte, die er standortgebunden und adressat*innenorientiert von der e-history erzählt, einer Geschichte, die zwanzig Jahre abdeckt, bis in unsere Gegenwart reicht und die aktuelle Frage zu beantworten versucht, ob Geschichtsschreibung eine Zukunft hat. Narrativer geht es nicht.
Jörg van Norden