Heinrich Ammerer: Konzepte historischen Denkens und ihre Entwicklungslogik. Eine Studie zur Genese historischer Verständnishorizonte, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2022, 295 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1396-4, EUR 40,00
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Der vorliegende Band dokumentiert eine empirische Studie zu den Konzepten historischen Denkens, die der Autor im Rahmen seiner Habilitation durchgeführt und deren theoretische Fundierung in einer separaten Monographie Eingang gefunden hat. Im ersten Kapitel geht es um besagte Konzepte, die Heinrich Ammerer in einem strukturalen, einem narrativen und einem metanarrativen Block bündelt. Unter das Strukturale fasst er Hierarchie und Macht, Konflikt und Kooperation, Knappheit und Verteilung sowie Agency, unter das Narrative Historische Signifikanz, Kausalität, Kontinuität und Wandel sowie Evidenz und Perspektivität, unter das Metanarrative Geschichtsdramaturgie, Moralität, Identität sowie Fortschritt und Verfall. Unbestrittenermaßen sind alle diese Aspekte für historisches Denken relevant, auch wenn sie über das Proprium unseres Faches - Zeit - hinausgehen. Eigentlich geschichtlich sind Kontinuität und Wandel sowie Fortschritt und Verfall [1], die strukturalen Konzepte verweisen auf die Sozialwissenschaften, die narrativen weitgehend auf Hermeneutik beziehungsweise die Dekonstruktion von Texten, die für alle Fächer wichtig sind, die metanarrativen vor allem auf Sach- und Werturteile. Wenn die genannten Konzepte im historischen Denken untrennbar miteinander verbunden sind, spräche vieles dafür, ein integratives Fach wie die Gesellschaftslehre an die Stelle des Geschichtsunterrichts treten zu lassen. Ammerer steht mit seinem sehr breiten Zugriff nicht alleine da. Zu Recht verweist er in diesem Zusammenhang auf Hans-Jürgen Pandel, Peter Seixas, Reinhart Koselleck und Jörn Rüsen, um nur wenige von denen zu nennen, auf die der Autor sich bezieht. Es beeindruckt, wie gründlich sich Ammerer in die einschlägige Literatur eingelesen hat und dabei nicht auf die Geschichtsdidaktik beschränkt, sondern auch auf die Politikdidaktik und die Bildungswissenschaften zurückgreift sowie den internationalen Forschungsstand umfänglich berücksichtigt. Schwierig wird es meines Erachtens an den wenigen Stellen, wo Konzepte als Universalien charakterisiert werden (21, 51). Auch hier ist Heinrich Ammerer allerdings nicht allein, ähnliche Denkmuster finden sich bei Koselleck und Rüsen, aber sie sind dennoch fragwürdig. Auch der Rekurs auf das Conceptual Change-Modell ist problematisch. Ist dieses in den Naturwissenschaften entwickelte Modell geschichtsdidaktisch tragfähig, wenn man in unserem Fach, und das scheint inzwischen Konsens zu sein, von einem narrativen Konstruktivismus ausgeht? [2] Was wären denn fachliche Fehlkonzepte, die es im Geschichtsunterricht zu korrigieren gälte, denn Fehlkonzepte sind ja etwas anderes als Verstöße gegen Triftigkeiten? Außerordentlich spannend ist, dass sich Ammerer an die heikle Frage nach der Entwicklungslogik historischen Denkens heranwagt. Die ältere Forschung - Kurt Sonntag, Jean Piaget, Heinrich Roth, Waltraut Küppers, die er den Leser*innen wieder ins Gedächtnis ruft - steht für eine Tradition, die abgebrochen schien, auf die eine Theorie historischen Lernens aber angewiesen ist beziehungsweis an die sie anknüpfen kann.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem "Entwicklungsverlauf historischer Konzepte" und setzt mit einem detaillierten Überblick zu den empirischen Studien ein, die sich mit Geschichtsbewusstsein und seiner Genese beschäftigen. Was unter Geschichtsbewusstsein zu verstehen ist, bleibt bewusst offen. Das kann sinnvoll sein, um unterschiedliche Ansätze in einem Diskurs zusammenzuführen. [3] Wünschenswert wäre aber, dass der Zusammenhang zu den eingangs thematisierten Konzepten deutlicher würde, gerade auch weil sich seine Forschungsfrage auf besagte Konzepte bezieht: Heinrich Ammerer möchte herausfinden, "welche Veränderungen sich in Verständnishorizonten, die zentralen Konzepten Historischen Denkens zuordenbar sind, vom Kind zum Erwachsen feststellen und kategorisieren lassen" (98). In diesem Zusammenhang verweist er auf die sieben Kernprobleme Peter Seixas' und Rainer Kriegers fünf "Beschreibungskategorien zur Erfassung von Geschichtsbewusstsein" (100). Auch hier wäre die Zuordnung zu den drei Blöcken notwendig, in die die Konzepte eingangs gegliedert worden sind.
Heinrich Ammerers methodischer Ansatz überzeugt. Die Stichprobe ist heterogen, aber wahrscheinlich lässt sich die Entwicklung historischen Denkens nur so fassen. Für seine Studie hat er 100 Proband*innen von Kindern im letzten (Pflicht-)Kindergartenjahr bis zu Bachelor-Lehramtsstudierenden für Geschichte, Sozialkunde und Politik leitfadengestützt interviewt. Bei der Auswertung bediente er sich der qualitativen Inhaltsanalyse, die sich an einem Kategorienhandbuch orientiert. Was die Niveaustufen angeht, verabschiedet er sich von der FUER-Graduierung nach Konventionalität, die etwas unglücklich aus Kohlbergs Modell moralischen Denkens entlehnt war, und stuft sachverhaltslogisch, wie bereits bei Jörg van Norden und Wanda Schürenberg geschehen, deren Studie zur Lernprogression er allerdings nicht zum Vergleich heranzieht. [4] Die von Ammerer qualitativ ausgewerteten Daten werden von Ulrike Kipmann quantitativ gegengerechnet.
Die Studie gibt erste wichtige Antworten auf die Frage, wie sich historisches Denken entwickelt. Ammerer kommt zu dem Ergebnis, dass alle Altersstufen diesbezüglich zu komplexen Verstehensleistungen fähig sind. Der Autor spricht deshalb von einem "'Generalfaktor'" (252). "Agency" sowie "Hierarchie und Macht" entwickeln sich erst bei den Bachelorstudierenden in nennenswertem Umfang, historische Signifikanz stagniert in der Oberstufe, Kontinuität und Wandel regredieren. Im Unterschied dazu wächst die Sensibilität für Evidenz und Perspektivität sowie für Moralität und Entwicklung (253). Verblüffend ist, dass die "größten konzeptuellen Zuwächse" in der Primarstufe und der Unterstufe festzustellen seien, in denen historisches Denken noch nicht "explizit und reflektierend thematisiert" werden (253f.). Das Interesse für Geschichte und die Relevanz, die dem Fach zugeschrieben wird, korrelieren mit elaborierterer Performanz der Konzepte (255). Daraus leitet Heinrich Ammerer den ernstzunehmenden Hinweis ab, dass gegenwartsorientiere Problembezüge pragmatisch von besonderer Bedeutung für die Entwicklung historischen Denkens sind. Anzumerken bleibt, dass Interesse und Relevanz in einer gewissen Spannung zu einander stehen können. So stellt sich in der vorliegenden Studie die Antike als die interessanteste Zeit heraus (173), die Zeitgeschichte aber als die relevanteste (182). Das eine hat cum grano salis weniger orientierende Funktion als das andere. Hier wäre weiterführend zu fragen, welche Rolle Neugier und Faszination für historisches Denken spielen. Faktoren, die meines Erachtens didaktisch stärkere Berücksichtigung finden sollten als bisher. [5]
Anmerkungen:
[1] Jörg van Norden: Geschichte ist Zeit. Historisches Denken zwischen Kairos und Chronos -theoretisch, pragmatisch, empirisch. Berlin 2014.
[2] Andreas Körber: Didaktische Perspektiven auf Reenactment als Geschichtssorte, in: Sabine Stach/Juliane Tomann: Historisches Reenactment. Disziplinäre Perspektiven auf ein dynamisches Forschungsfeld (Medien der Geschichte 4), Berlin/Boston 2021, 97-129, hier 104.
[3] Jörg van Norden: Geschichte ist Bewusstsein. Historie einer geschichtsdidaktischen Fundamentalkategorie. Frankfurt am Main 2018, 310-317.
[4] Ders./Wanda Schürenberg (Hg.): Lernprogression narrativer Kompetenz im Geschichtsunterricht. Ein Vergleich von Waldorf- und Regelschule. Frankfurt am Main 2019; Thomas Must: Kompetenzentwicklung im Praxissemester. Anspruch und Wirklichkeit im Fach Geschichte im empirischen Vergleich. PraxisForschungLehrer*innenBildung, 2(1) 2020, 64-82. doi:10.4119/PFLB-3611.
[5] Kurt Fina: Geschichtsdidaktik und Auswahlproblematik. Vom Sinn des Exemplarischen im Geschichtsunterricht. München 1969, 100f.
Jörg van Norden