Ludmila Gelwich: Theodor Schiemann und die deutsche Russlandpolitik 1887-1918. Politische Publizistik als patriotische Pflicht, Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2022, VI + 395 S., ISBN 978-3-506-79361-4, EUR 89,00
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Nur die wenigsten kennen Theodor Schiemann. Er ist der erste Lehrstuhlinhaber für "Osteuropäische Geschichte und Landeskunde" der Universität in Berlin. Er ist zweifelsohne wichtig für die Geschichte der Humboldtuniversität und für die Geschichte der historischen Teildisziplin "Osteuropäischen Geschichte". Aber gibt es einen Erkenntnisgewinn darüber hinaus, allgemein für die Geschichte des Kaiserreiches? Ludmila Gelwich hat dazu in ihrer Dissertation (Augsburg, 2020) alles ausgewertet, was sich in rund zehn deutschen Archiven an Quellen über Schiemann finden lässt. Allein das ist eine beachtliche Leistung. Es gibt zwar schon einige biographische Werke zu Schiemann, aber nicht mit der Fragestellung von Gelwich. Und es ist diese, ihre Fragestellung, die zum Erkenntnisgewinn für die allgemeine Geschichte des späten Kaiserreiches führt.
Gelwich beschränkt sich nicht auf nur Biographisches, sondern analysiert die Einflussmöglichkeiten des wohl prominentesten Kenners Russlands in Deutschland auf die aktuelle Politik und die öffentliche Meinung. Schiemann stand im regen Austausch mit politischen Entscheidungsträgern. Darüber hinaus veröffentlichte Schiemann fleißig in vielen Presseorganen. Schiemanns Möglichkeiten tatsächlicher oder vermeintlicher Einflussnahme ging so weit, dass der Kanzler Bülow von einer anonymen deutschen Patriotin auf einer Postkarte gefragt werden konnte, wer eigentlich die Politik in Deutschland macht: "Der Fürst Bülow, Fürst Henckel" - er war einer der reichsten und einflussreichsten Industriellen seiner Zeit - "oder Professor Schiemann? Der letzte Augur dürfte auf alle Fälle zu eliminieren sein". Dieses Zitat auf Seite 1 ist geradezu ideal, um in die Fragestellung des Buches einzuleiten. Deshalb steht es auch gleich am Anfang, und indirekt zeigt die Provenienz dieses Zitates, irgendwo im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, wie akribisch Gelwich die Archive durchforstet und Akten ausgewertet hat. Denn wer beschäftigt sich schon mit anonymen Postkarten. Diese wurde allerdings an prominenter Stelle archiviert und zeigt, dass diese Postkarte im Auswärtigen Amt einen Nerv getroffen hat.
Den Einfluss Schiemanns auf die politischen Entscheidungsträger dokumentiert Gelwich auf der Basis der umfangreichen Korrespondenzpartner von Schiemann, zu denen neben vielen anderen die Reichskanzler Bülow und Bethmann-Hollweg gehörten und in Russland ein Cousin des Zaren Großfürst Nikolaj Michajlowiĉ Romanov. Den Einfluss auf die öffentliche Meinung dokumentiert Gelwich mit der Auswertung von prominenten deutschen Zeitungen und internen Presseberichten, die für Regierungsstellen verfasst wurden. Doch damit ist die Fragestellung immer noch nicht voll umrissen. Gelwich untersucht auch die Rückkopplungseffekte des Wirkens von Schiemann auf die russische Politik und russische Medien. Denn was der prominenteste Kenner Deutschlands über Russland schrieb, wurde dort auch zur Kenntnis genommen. Man vermutet, dass Schiemann wegen der auch in Russland bekannten Nähe zur deutschen Politik quasi deren offiziöses Sprachrohr war. Und so beeinflusste Schiemann nicht nur das Bild von Russland in Deutschland, sondern auch das Bild von Deutschland in Russland. Dazu musste Gelwich auch russische Archive und russische Presse auswerten.
Gelwichs Ergebnis: Sowohl in Deutschland wie in Russland hatte Schiemann einen beträchtlichen Einfluss auf die Politik. Dass eine Person Einfluss hat, ist immer schwierig, zu messen und wissenschaftlich abzusichern. Gelwich kann dies leisten mit ihrer akribischen Auswertung eines umfangreichen Bestandes an öffentlich zugänglichen Quellen (Presseartikel) und unveröffentlichten Quellen von Regierungsstellen und auch von Quellen aus Nachlässen prominenter russischer wie deutscher Berater und Entscheidungsträger. Schiemann war nicht nur Russlandkenner, er war auch ein Russlandfeind, der immer und immer wieder Russlands vermeintlich oder nicht vermeintlich aggressive Politik mit ihren Gefahren für Deutschland thematisierte - mit dem Rückkopplungseffekt, dass die Politik beider Staaten tatsächlich immer konfrontativer wurde. Er war ein Anwalt aggressiver, imperialistischer Außenpolitik, die mit der tatsächlichen Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen korrespondierte. Dies ist allerdings schon früher festgestellt worden (u.a. von Rüdiger vom Bruch), jedoch nie so gründlich belegt und abgesichert wie in Gelwichs Dissertation.
Diese ist damit nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Person Schiemanns und zum deutsch-russischen Verhältnis im späten Kaiserreich, sondern gleichzeitig ein wichtiger Beitrag zur Rolle von Intellektuellen in der Politik - ein Thema, das außerhalb Deutschlands viel besser erforscht ist. Die Defizite in diesem Bereich rühren auch daher, wie Gelwich richtig herausstellt, dass in der Forschung (und auch in der aktuellen Tagespolitik) das Wirken von regierungskritischen Wissenschaftlern und Intellektuellen im Fokus steht, nicht jedoch das Wirken derer, die sich konservativ-affirmativ zur offiziellen Politik positionieren. Von ihnen gab es viele. Und das zeigt wieder einmal mehr, dass sich Wilhelm II. mit seiner aggressiven Außen- und verhängnisvollen Russlandpolitik auf breitere Kreise in der deutschen Gesellschaft stützen konnte als bisher bekannt. Auch dies ist ein wichtiger, vielleicht das wichtigste Ergebnis der Arbeit.
Fazit: Die Dissertation von Ludmila Gelwich behandelt mehr Themen, als der Titel "Theodor Schiemann und die deutsche Russlandpolitik 1887-1918" vermuten lässt. Aussagekräftiger ist der Untertitel "Politische Publizistik als patriotische Pflicht". In Titel und Untertitel kommt jedoch nicht der verhängnisvolle Einfluss Schiemanns auf die Politik beider Länder zum Ausdruck. Das immer schwierige Unterfangen, Einfluss mit wissenschaftlichen Mitteln zu verifizieren, ist Gelwich durch ihre Auswertung breiter Quellenbestände in Deutschland und Russland überzeugend gelungen.
Manfred Hanisch