Christine Kleinjung: Bischofsabsetzungen und Bischofsbild. Texte - Praktiken - Deutungen in der politischen Kultur des westfränkisch-französischen Reichs 835 - ca. 1030 (= Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter; Bd. 11), Ostfildern: Thorbecke 2021, 388 S., ISBN 978-3-7995-6091-7, EUR 48,00
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Christine Kleinjung knüpft mit ihrer Habilitationsschrift an Studien der letzten Jahre an, die mithilfe wissenssoziologischer Ansätze das politische (Selbst)Verständnis des frühmittelalterlichen Episkopats untersucht, nach dem zeitgenössischen Wissen über das Bischofsamt und nach der Anwendung und Transformation solcher Wissensbestände in der politischen Kultur der Zeit gefragt haben. [1]
Nach einer Einleitung (Kap. I), in der der Forschungsstand konzise zusammengefasst und der eigene Ansatz der Arbeit vorgestellt wird, richtet Kleinjung ihren Fokus auf das in der Mediävistik bislang nicht systematisch untersuchte Feld der frühmittelalterlichen Bischofsabsetzungen im Westfrankenreich zwischen 835 und 991. Diese werden als "politische Konflikte" (26) unterschiedlicher Akteure und sozialer Gruppen betrachtet, deren Beilegung nicht nur durch die Klärung von Verfahrensfragen, durch performative Rituale und Symbolhandlungen erfolgte. Sie zogen auch eine vielfältige Textproduktion nach sich, mit der aus unterschiedlichen Perspektiven heraus eine Deutungshoheit über die Konflikte beansprucht werden konnte und sollte. Mit den ausgewählten Fallbeispielen - Ebo von Reims, Wenilo von Sens, Rothad von Soissons, Hinkmar von Laon, Gunthar von Köln und Thietgaud von Trier - greift die Autorin zunächst auf bekannte Absetzungen des 9. Jahrhunderts zurück (Kap. II-V). Vor allem am Beispiel des in mehrere Konflikte involvierten Erzbischofs Hinkmar von Reims kann Kleinjung anschaulich zeigen, wie flexibel und gattungsbezogen in den jeweiligen Schriften die Vorwürfe gegen die abzusetzenden Bischöfe ausgerichtet wurden, wenn in den Annales Bertiniani beispielsweise der Konflikt Hinkmars von Laon mit Karl dem Kahlen betont wurde, in den Rechtsdossiers des Erzbischofs jedoch der Missbrauch der bischöflichen auctoritas durch seinen Suffragan Hinkmar im Zentrum stand. Ebenso arbeitet die Autorin anhand ihrer Fallbeispiele heraus, wie stark das karolingische Bischofsbild, das vor allem auf der Synode von Paris 829 programmatisch formuliert worden war und als "verdichteter Wissensbestand" (157) den Bischöfen des 9. Jahrhunderts grundsätzlich zur Verfügung stand, abhängig von individueller Interessenslage mal mehr und mal weniger erkennbar und intensiv rezipiert wurde. Eine ähnliche Flexibilität beobachtet Kleinjung auch in ihrem systematischen Kapitel zu den Verhandlungsorten und -teilnehmern und konstatiert bei den Bischofsabsetzungen ein Ineinandergreifen und Miteinander von weltlichen und geistlichen Zuständigkeiten, die auf verschiedensten Versammlungsformen zum Tragen kommen konnten (Kap. VI).
Die nachfolgenden Kapitel widmen sich zunächst exemplarisch zwei weiteren bekannten Bischofsabsetzungen des 10. Jahrhundert (Kap. VII-VIII). Anhand des Reimser Bistumsstreits zwischen Hugo und Artold in den 940er Jahren und der historiographischen Verarbeitung durch Flodoard von Reims und Richer von Reims kann Kleinjung aufzeigen, wie das Wissen um die Absetzung Ebos von Reims und um das Pariser Modell von 829 zwar formal reproduziert wurde, es aber nicht als Argumentationshilfe genutzt wurde, um die Vorgänge der 940er Jahre zu deuten. Vielmehr wurde das zeitgenössische Bischofsbild an neue politische Gegebenheiten angepasst. Im zweiten Konfliktfall zwischen Gerbert und Arnulf von Reims in den 990er Jahren führt die Autorin aus, dass der Ebo-Fall von 835 als Wissensbestand des Reimser Archivs vor allem von Gerbert genutzt wurde, um im Sinne der karolingischen Denkmuster gegen Arnulf als unwürdigen Bischof zu argumentieren und die eigene Position zu stärken. Allerdings deckte sich Gerberts Bischofsverständnis nicht mit allen Auffassungen der Zeitgenossen, wie anhand der Interessen Hugo Capets oder auch der historiographischen Deutung des Konflikts bei Richer von Reims beleuchtet wird.
Nach diesen konkreten Fallbeispielen weitet Kleinjung in den letzten drei Kapiteln (IX-XI) ihre Untersuchungsperspektive und löst sich von politischen Konflikten in Form von Bischofsabsetzungen, um auf einer grundsätzlicheren Ebene nach der Präsenz und Transformation von sozialem Wissen über Bischöfe in nichtbischöflichen Gruppen des 10. und frühen 11. Jahrhunderts zu fragen. Am Beispiel der Schriften Abbos von Fleury sowie der monastischen Historiographen Aimo von Fleury, Helgald und Andreas von Fleury werden nicht nur die zeitgenössischen Aussagen zum Bischofsbild, sondern auch die Ansichten der Autoren über eine angemessene Königsherrschaft präsentiert. Welche Erwartungshaltungen klösterliche (Reform)Gemeinschaften an die Bischöfe richten konnten, analysiert Kleinjung schließlich am Beispiel des von den Bischöfen traditionell beanspruchten Schutzes des Kirchenguts. Anhand einer Untersuchung zu monastischen Viten und Mirakelberichten hält sie fest, dass in bischofsnahen Zeugnissen der Schutz des Klosterguts weiterhin als Aufgabe des Bischofs angesehen wurde, während in Klöstern, die nach einer Exemtion strebten, die Heiligen des Klosters für den Schutz des Kirchenguts zuständig waren.
Die Arbeit schließt mit einer ausführlichen Zusammenfassung (Kap. XII), einem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Register ab. Am Ende der Lektüre bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. So liefert die Autorin vielfach gewinnbringende Einblicke in das Bischofsbild vom 9. bis zum frühen 11. Jahrhundert, indem sie nicht nur die bisherigen Forschungen für ihre Untersuchungsperspektive bestätigen und anhand ihrer Fallstudien zu den Bischofsabsetzungen und ihrer Diskussion des zeitgenössischen Bischofsbilds in monastischer Perspektive erweitern kann. Auch viele ihrer Einzelbeobachtungen, etwa zur Bedeutung des Reimser Archivs als Wissensspeicher oder zur Diskussion um das Kirchengut im Sinne einer monastischen Konstruktion von bischöflichem Fehlverhalten, regen zu weiterem Nachdenken an. Weniger überzeugend ist hingegen die Gesamtstruktur der Arbeit, die eine klare Stringenz an mehreren Stellen vermissen lässt. Weshalb beispielsweise ausführlich auf die monastische Perspektivierung des Königsamtes durch Helgald für eine Analyse des zeitgenössischen Bischofsverständnisses eingegangen werden muss, wird erst im Verlauf des Kapitels ersichtlich. Zudem wäre ein aufmerksameres Lektorat notwendig gewesen, durch das eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Flüchtigkeitsfehlern sowie inhaltliche und sprachliche Redundanzen hätten verhindert werden können.
Anmerkung:
[1] Vgl. zu den genannten Forschungen insbesondere: Steffen Patzold: Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 25), Ostfildern 2008, dessen Habilitationsschrift von Kleinjung vielfach als Referenzwerk herangezogen wird.
Lioba Geis