Matthias Pohlig / Sita Steckel (Hgg.): Über Religion entscheiden / Choosing my Religion. Religiöse Optionen und Alternativen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum / Religious Options and Alternatives in Medieval and Early Modern Christianity (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 125), Tübingen: Mohr Siebeck 2021, VIII + 302 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-16-160273-3, EUR 94,00
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Der Tagungsband erprobt, ob sich der Geschichte der lateinischen Christenheit vom Hohen Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein neue Facetten abgewinnen lassen, wenn man Entscheidungsprozesse ins Visier nimmt. "Religionsgeschichte" vom Entscheiden her zu beleuchten, ist freilich nicht ganz so originell, wie Leser der Aufsatzsammlung meinen könnten: Denn vor einigen Jahren hat der Religionswissenschaftler Helmut Zander eine voluminöse Studie vorgelegt, die herausstreicht, Alleinstellungsmerkmal wie "regulative Idee" des okzidentalen Christentums sei die "exklusive Entscheidung" für diese eine Religion (später: Konfession). Zander leitete hieraus mit oft plausiblen, fast immer erwägenswerten Argumenten weitreichende soziale, politische, mentale Konsequenzen (von akademischer und kommunaler Selbstorganisation bis hin zum "europäischen Wohlfahrtsstaat") im Verlauf von zweitausend Jahren ab. [1]
Der Tagungsband fasst Entscheidungsprozesse mentalitätsgeschichtlich, fragt also nicht nach vermeintlich jähen Einsichten einzelner Großer Männer (bekanntlich wurde Luther in seinem Turm, aber auch Calvin bei seiner "subita conversio" plötzlich vom Saulus zum Paulus), sondern betont die Prozesshaftigkeit des Entscheidens aller möglicher, häufig wenig prominenter Menschen und versucht, das Entscheiden in sozial- und kulturgeschichtliche Kontexte einzubetten. Auch ohne geniale Geistesblitze begegnen uns vielerlei Entscheidungen: Da geht es um Konversionen zwischen Religionen bzw. Konfessionen oder um Optionen innerhalb solcher Weltanschauungsgemeinschaften, um individuelles oder kollektives Entscheiden, sogar um "institutionelle Entscheidungsverfahren" (28), wie sie der nachtridentinische Katholizismus immer bürokratischer durchorganisiert habe. In manchen Beiträgen finden wir die einschlägigen Termini aus dem Wortfeld "entscheiden" fast nicht, in anderen stoßen wir auf Entscheidungen, aber nicht den Prozess des Entscheidens, schon weil die Quellen einfach nicht mehr hergeben: Im Mittelalter können wir Entscheidungsprozesse "in den Quellen so gut wie nie nachvollziehen, da nur die Ergebnisse, also die gefällten Entscheidungen, mitgeteilt werden" (218), aber auch in der Frühen Neuzeit müssen wir uns meistens mit "nachträglich formulierte[n] Entscheidungsnarrative[n]" (279) begnügen.
Einleitend werden alternative "Verlaufsmodelle" religiöser Handlungsspielräume vorgestellt. Gab es "im Mittelalter eine christliche Einheitskultur, die durch die Reformation aufgebrochen wurde, was langfristig zu einer religiös pluralen Moderne führte"? Oder waltete vielmehr seit dem ausgehenden Mittelalter eine große "Vereinheitlichungstendenz", gab es demnach einen "Verlust an religiöser Pluralität" (27, 16)? Oder lösten sich - so eine dritte, unter Religionswissenschaftlern verbreitete Annahme - seit der Antike Phasen wachsender und sich verengender Entscheidungsspielräume ab, haben wir also eher wechselnde Konjunkturen denn eine lineare Entwicklung vor uns?
Die Fallstudien addieren sich nicht zur bündigen Entscheidung für dieses oder jenes "Verlaufsmodell", das sollte man einem Tagungsband nicht zum Vorwurf machen. Diverse Beiträge künden von der Vielfalt spätmittelalterlicher Frömmigkeitsformen: Vor allem im Mittelmeerraum beobachte man "religious pluralism and diversity" (169), "christliche, jüdische und muslimische Gemeinden [...] interagierten" im Alltag "miteinander" (253). Neben den vielfach herausgearbeiteten mittelalterlichen Zwängen "there is another story to tell, where willing and choosing along with custom and conformity take their place too" (75).
Wurde die Vielfalt möglicher Optionen in den ersten neuzeitlichen Jahrzehnten insofern geringer, als "der Pluralität in einer Kirche [...] eine Pluralität von Kirchen" erwuchs, "die jeweils in sich selbst Pluralitätsmöglichkeiten reduzier[t]en" (97)? Die Studie, aus der das Zitat stammt, sieht eine dreifache "Einschränkung der Entscheidungsspielräume" (90): Der Kreis der "gültigen Autoritäten" (89) habe sich konfessionsspezifisch eingeengt ("von der Fluidität theologischer Autoritäten zur Normierung"; 86). Sodann gebe es eine Tendenz weg von der "Grenzziehung gegenüber verurteilten Einzelfällen", hin zu einer "positiven Definition des Glaubens durch explizite Benennung der Grundlagen, auf die eine Verpflichtung erfolgen sollte" (92). Damit hätten, drittens, akademische Disputationen den Charakter einer Spielwiese für "exercitii causa" vorgebrachten originellen Scharfsinn verloren.
Es fällt auf, dass jenes Konfessionalisierungsparadigma (pointiert gesagt: instrumentelle Verwendung der Konfession im Dienste staatlicher Modernisierung), das in den beiden die Jahrtausendwende rahmenden Jahrzehnten so präsent gewesen war, im Tagungsband fast keine Rolle spielt. Auch wird der Zeitraum zwischen ca. 1550 und ca. 1650 kaum thematisiert. Immerhin stellt uns eine Studie Traktate vor, die im späten 16. Jahrhundert die exklusive Wahrheit des katholischen Glaubens 'bewiesen'; sie schließt daraus, dass es "eine Gruppe von Rezipienten gibt, denen die konfessionellen Optionen vor Augen stehen. Diesen Rezipienten müssen augenscheinlich Argumente geliefert werden" (110). Freilich gibt der Rezensent zu bedenken, dass bei solchen kontroverstheologischen Traktaten immer schwer zu beurteilen ist, ob sie nicht, als Ausweis glaubensfester Gelehrsamkeit, der akademischen Reputation im eigenen Lager dienen sollten, deshalb auf renommierte und etablierte orthodoxe Leser, weniger auf zagende und zweifelnde hofften.
Eine Studie zu publizistischen Debatten über Toleranz und über Fürstenkonversionen um 1700 betont "nachdrücklich, welche Bedeutung die Konkurrenz religiöser Wahrheitssysteme im christlichen Mitteleuropa zweihundert Jahre nach der Reformation besaß - sonst wäre ein Wechsel zwischen ihnen mit weniger Getöse vor sich gegangen" (138). Auch nach dem Konfessionellen Zeitalter könne man also von einer "weiterhin in vielerlei Hinsicht virulenten Glaubensspaltung" sprechen (137). Dem Rezensenten fiel noch eine Parallele zum Konfessionellen Zeitalter auf: Gegner irenischer Theologen warfen diesen um 1700 immer wieder ihre "Nähe [...] zu den Entscheidungsträgern" vor (147). Das gilt auch für konfessionelle Kampfschriften aus den Jahren des irenischen Erzherzogs (sowie Kaisers) Maximilian II. (1564-76), in Sachregistern war damals unter "HofChristen" nachzuschauen, wo man Polemik gegen solche angeblich laue, dem österreichischen Erzherzog ergebene Theologen finden würde.
"Entscheiden" als neues Forschungsparadigma, das Theologen und (etwa an "kulturellen Praktiken" oder vormoderner "Staatsbildung" interessierte) Historiker sowie antike, mediävistische und neuzeitliche Forschungen zusammenzuführen vermag? Der Rezensent ist unschlüssig, aber um einen anregenden Tagungsband zustandezubringen, war die Tragweite dieses neuen Ansatzes erkennbar hinreichend.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Helmut Zander: "Europäische" Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung - Konsequenzen im interkulturellen Vergleich, Berlin/Boston 2016; sowie Axel Gotthard: Rezension zu Helmut Zander, "Europäische" Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung - Konsequenzen im interkulturellen Vergleich. Berlin/Boston 2016, in: HZ 305 (2017), S. 749f.
Axel Gotthard