Rezension über:

John McWhorter: Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet, Hamburg: Hoffmann und Campe 2022, 256 S., ISBN 978-3-455-01297-2, EUR 23,00
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Rezension von:
Sebastian Voigt
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Voigt: Rezension von: John McWhorter: Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet, Hamburg: Hoffmann und Campe 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/36834.html


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John McWhorter: Die Erwählten

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Der republikanische Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, liefert sich momentan eine absurde Auseinandersetzung mit der Walt Disney Company. Der Konzern betreibt in der Nähe von Orlando den Vergnügungspark Disneyworld. Dort arbeiten ungefähr 70.000 Beschäftigte. Dem größten Arbeitgeber der Region räumte Florida umfangreiche Sonderrechte ein. Nachdem das Unternehmen allerdings das umstrittene "Don't say gay"-Gesetz kritisiert hatte, suchte DeSantis die Konfrontation. Das Gesetz vom Frühjahr 2022 richtet sich gegen eine vermeintliche "Frühsexualisierung" von Schulkindern und untersagt es Lehrern, bis zur dritten Klasse über "sexuelle Orientierung oder Gender-Identitäten" zu sprechen. Kritikern zufolge, darunter Disney, richteten sich die vage formulierten Klauseln vor allem gegen die LGBT+-Community. Seitdem ist der Konzern immer wieder Angriffen ausgesetzt. Zuletzt drohte DeSantis damit, neben Disneyworld ein Hochsicherheitsgefängnis zu bauen.

Diese Groteske ist Ausdruck der tiefen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in kulturellen Fragen. Die Haltung zur "wokeness" entwickelte sich zur entscheidenden Trennlinie. Eine ähnliche Debatte, wenn auch nicht ganz so unerbittlich, zeichnet sich in vielen Ländern ab. Das dürfte der Grund für die deutsche Übersetzung des Buches von John McWhorter sein.

Die Originalausgabe erschien 2021, nachdem Polizisten in Minneapolis George Floyd zu Tode gebracht und sich anschließend die Black Lives Matter (BLM) Proteste Bahn gebrochen hatten. In unzähligen Städten fanden Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Rassismus statt. Viele Prominente solidarisierten sich mit der Bewegung. Zugleich distanzierte sich etwa der ehemalige Präsident Donald Trump ausdrücklich davon. Auch McWhorter steht den Forderungen der BLM-Bewegung kritisch gegenüber, allerdings aus anderen Gründen als die Rechte.

Den spezifischen Entstehungskontext merkt man dem Buch deutlich an. Alle Beispiele beziehen sich ausschließlich auf die USA und dürften bestenfalls ausgewiesenen Kennern bekannt sein. Dieser Tatbestand schmälert den Wert für deutsche Leserinnen und Leser merklich.

Der afroamerikanische Autor arbeitet als Linguistik-Professor an der Columbia University in New York. Er schreibt außerdem für Zeitungen und ist auf Twitter aktiv. Die in den USA erschienene Originalausgabe "Woke Racism. How a New Religion Has Betrayed Black America" avancierte zum Bestseller. Dieser Titel bringt die Hauptthesen besser zum Ausdruck. Die "woke" Ideologie sei eine neue Religion, ihre Anhänger agierten wie fundamentalistische Gläubige und seien rationalen Argumenten nicht zugänglich. In ihrem Glauben tauchten die Afroamerikaner vor allem als Opfer auf, die beschützt werden müssten. Er schade entgegen dem eigenen Anspruch den Schwarzen, statt das konkrete Leben zu verbessern.

Diese Thesen erläutert der Autor in sechs Kapiteln. Er beschreibt, wie Menschen ihre Arbeitsstelle verloren oder öffentlich an den Pranger gestellt wurden, weil sie gegen die politische correctness verstießen. Die neuen Antirassistinnen und Antirassisten übten folglich Einfluss im Diskurs aus und machten das Leben von Personen mit anderer Meinung schwer. Deshalb sah sich McWhorter veranlasst, dieses Buch zu schreiben. Es stellt also eine politische Intervention, keine akademische Abhandlung dar.

Allerdings greift er nicht als (Rechts-)Konservativer ein, sondern als Linksliberaler, der gegen eine stärker werdende Strömung in der Linken argumentiert. Er versteht das Buch als "Aufruf an den Rest von uns: Wir sollten ein Verständnis davon gewinnen, dass Menschen, die einer ganz bestimmten Ideologie anhängen, unser Land verändern wollen, und zwar auf der ideologischen Grundlage von Rassismus." (6). Dies sei den Protagonistinnen und Protagonisten nicht bewusst, und sie würden es vehement abstreiten. Aufgrund ihrer Borniertheit wolle er sie auch nicht argumentativ überzeugen. Ein derartiges Unterfangen sei eine vergebliche Mühe.

"Ich schreibe dieses Buch vor dem Hintergrund, dass die fragliche Ideologie Weiße in die Lage versetzt, sich als Retterinnen und Retter Schwarzer Menschen zu bezeichnen und gleichzeitig Schwarze gleichzeitig als die dümmsten, schwächsten, sich selbst am meisten bemitleidenden Menschen in der Geschichte unserer Art aussehen zu lassen. Schwarze Menschen wiederum lehrt sie, sich in diesem Status zu suhlen und ihn zu genießen, schließlich macht er uns zu etwas Besonderem." (14).

Diese Grundannahmen diskutiert McWhorter in bisweilen redundanter Weise. Vor allem kritisiert er die These vom strukturellen Rassismus und die Ignoranz der Erwählten gegenüber den Fortschritten, die die amerikanische Gesellschaft gerade in Bezug auf "race" gemacht habe. Dadurch würden die Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King entwertet. Der Autor sieht viele Probleme in der Gegenwart, erachtet aber die Ideologie des "woken" Antirassismus als schädlich. Ihre Anhängerinnen und Anhänger nähmen an, dass Amerika im Kern verdorben sei und sich eigentlich nichts zum Positiven verändern lasse.

Um nicht bei einer Kritik stehen zu bleiben, macht er konkrete Vorschläge, um die Situation der afroamerikanischen Bevölkerung zu verbessern. Zunächst plädiert McWhorter dafür, den Krieg gegen die Drogen zu beenden. Das würde den Schwarzmarkt austrocknen und junge Männer eher dazu bringen, sich eine reguläre Beschäftigung zu suchen. Zweitens fordert er, schwarzen Kindern richtig lesen beizubringen, damit sie nicht von vorneherein ins Abseits gedrängt würden. Und zu guter Letzt mahnt er an, klassische Berufe der Arbeiterschaft wieder aufzuwerten. Die Gesellschaft solle sich von der Vorstellung verabschieden, dass alle auf eine Hochschule gehen müssten, um erfolgreich zu sein.

McWhorter trifft zweifellos einen Punkt in den Debatten um "wokeness" und Rassismus, wenn er auf den Fanatismus hinweist, mit dem sie geführt werden. Diese Art macht eine sachliche Auseinandersetzung häufig unmöglich. Es geht nicht mehr um Argumente, sondern darum, sich moralisch auf der besseren Seite zu wähnen und andere Positionen zu diskreditieren. Derartige Verhaltensweisen nicht hinzunehmen, sich nicht mundtot machen zu lassen, ist sicherlich geboten.

Allerdings schießt der Autor übers Ziel hinaus und seine Argumentation hat selbst eine deutliche Schlagseite. Über die gesellschaftliche Relevanz der Debatten und über ihre Wirkungen müsste zunächst noch gestritten werden. So falsch es meines Erachtens ist, das N-Wort aus allen literarischen Büchern zu entfernen, so richtig ist, dass Boris Palmer für seine ostentative Verwendung jüngst auf einer Konferenz in Frankfurt am Main kritisiert wird und Konsequenzen tragen muss. Die Bedeutung von Wörtern hängt vom sozialen und zeitlichen Kontext ab, aber dennoch ist Sprache niemals neutral. Die Debatten über ihre Verwendung weisen auf eine höhere Sensibilität dafür hin. Diese Entwicklung ist positiv. McWhorter geht es allerdings nicht um solche Ambivalenzen.

In seiner Einseitigkeit greift er bisweilen völlig daneben, wenn er etwa den Sturm aufs Kapitol als weniger gefährlich bezeichnet als die Ideologie der Erwählten: "Dass sie [die Kapitolstürmer] versucht haben, die Demokratie zu bedrohen, ist nicht so wichtig wie die Tatsache, dass ihr Versuch gescheitert ist. Im Vergleich hierzu sind die Erwählten ein voller Erfolg." (214).

So skandalös es sein mag, jemanden wegen einer vermeintlich falschen Äußerung zu entlassen, so wenig vergleichbar ist das doch mit dem Versuch, die friedliche Machtübergabe nach einer Wahl zu verhindern. Dieser Versuch ist letztlich gescheitert, aber das Scheitern kostete fünf Personen das Leben, darunter Polizisten, die das Kapitol bewachten. Statt den Angriff zu relativieren, wäre es angebrachter, darüber zu diskutieren, wie mit Bedrohungen der Demokratie von rechts umzugehen ist, sei es durch den Trump-Mob oder die Reichsbürger.

Insofern lohnt sich die Lektüre von McWhorters Buch lediglich als ein Teil der amerikanischen Debatte um "wokeness". Wer sich allerdings einen intellektuell anregenderen Beitrag wünscht, sollte zu einem der anderen Bücher zum Thema greifen.

Sebastian Voigt