Jörg Ganzenmüller / Bertram Triebel (Hgg.): Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? Orte politischer und kultureller Partizipation in der DDR (= Europäische Diktaturen und ihre Überwindung), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 294 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-52164-6, EUR 35,00
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Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat in der DDR ist in der zeithistorischen Forschung bereits in den 1990er Jahren umfassend diskutiert worden. Die Bemühungen, die spezifischen Merkmale der Beziehungen zwischen politischen und sozialen Prozessen, Institutionen und Akteuren im SED-Regime zu erfassen, zu konturieren und zu erklären, mündeten in Konzepte wie denjenigen der "stillgelegten" oder "durchherrschten Gesellschaft" (Sigrid Meuschel beziehungsweise Alf Lüdtke und Jürgen Kocka), der Deutung der DDR als "partizipatorische Diktatur" (Mary Fulbrook), Hinweisen auf "Grenzen der Diktatur" (Richard Bessel/Ralph Jessen) und Studien zum "Eigen-Sinn" (Thomas Lindenberger) in der staatsozialistischen Diktatur. An diese Diskussionen schließt der von Jörg Ganzenmüller und Bertram Triebel edierte Band an. Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung und Ganzenmüller in seinen konzeptionellen Überlegungen erläutern, geht er auch von Dietrich Geyers bekannter Interpretation der Politik Katharinas II. aus. Der Tübinger Historiker hatte 1975 argumentiert, dass die russische Zarin die Standeskorporationen des Provinzadels als "staatliche Veranstaltung" [1] gegründet habe. Diese Deutung aufgreifend, konzentrieren sich die Beiträge in dem Band auf Mitwirkungsmöglichkeiten, die von der SED-Führung offiziell eingeräumt, aber "von oben" gesteuert wurden. Sie werden jedoch nicht nur als Bereiche der Kontrolle, sondern auch als "Vergesellschaftungskerne" [2] gefasst. Damit analysieren die einzelnen Aufsätze auf der Grundlage eines praxeologischen Ansatzes Handlungsformen in der SED-Diktatur zwischen Unterstützung und Mitwirkung auf der einen Seite und Ausweichen, Ausnutzen und Aneignung auf der anderen.
Im Einzelnen enthält der Band Beiträge zum "Parteileben im Betriebsalltag" (Sabine Pannen), zur "Basis der Blockpartei CDU" (Bertram Triebel), zu städtischen Partizipationsräumen in Leipzig von 1961 bis 1989 (Christian Rau), zum Engagement für den Umweltschutz in der DDR (Christian Möller) und zur "Singebewegung" der Freien Deutschen Jugend (Cornelia Bruhn). Darüber hinaus untersuchen Jan Scheunemann Heimatdiskurse in der frühen DDR, Tobias Huff lokale Umweltgruppen in den Jahren von 1971 bis 1989, Anja Schröter die Aktivitäten für die Stadtgestaltung in Dessau um 1989/90 und Jenny Preis gesellschaftliche Aushandlungsprozesse im Transformationsprozess in den thüringischen Städten Eisenach und Erfurt. Sabine Pannen interpretiert die SED-Grundorganisationen in den Betrieben als Steuerungsinstanzen, die zur Stabilität des Herrschaftssystems beitrugen und die Staatspartei zugleich in der ostdeutschen Gesellschaft verankerten. In diesem Rahmen dienten Parteiversammlungen nicht nur der Durchsetzung politischer Direktiven, sondern sie vermittelten den anwesenden "Genossen" auch wertvolle Informationen, die sich in Handlungsorientierungen und Sinngebungen niederschlugen. Wie die Verfasserin überzeugend argumentiert, verloren die Versammlungen diese Funktionen allerdings in den späten 1980er Jahren. Angesichts ihrer zunehmenden Ratlosigkeit gaben auch SED-Mitglieder schließlich ihre Vermittlerrolle in den Betrieben auf.
Jan Scheunemann zeigt, wie sich Heimatbewegte in der frühen DDR dem Herrschaftsanspruch der SED-Diktatur entzogen. Die Machthaber beschlossen auf ihrer II. Parteikonferenz im Juli 1952 den "Zwickauer Plan", der das traditionale Verständnis in den Dienst der Ideologie einer "sozialistischen Heimat" stellen sollte. Letztlich zielten diese "identitätspolitischen Initiativen" (196) der Staatspartei auf eine "nationale Volkskultur", die auch noch einen gesamtdeutschen Anspruch widerspiegelte. Demgegenüber prolongierten ältere Aktivisten in Heimatstuben und lokalen Museen aber weiterhin überkommene Vorstellungen, auf die SED-Funktionäre wie Heinz Arno Knorr (1909-1996) mit Unverständnis oder offener Feindseligkeit gegenüber "Heimattümelei" reagierten. Scheunemanns Beitrag akzentuiert besonders die "Grenzen der Diktatur", während Formen der Aneignung und Ausnutzung offizieller Partizipationsräume unterbelichtet bleiben.
Jenny Price zeigt die Beharrungskraft gesellschaftlicher Handlungsformen, Strukturen und Netzwerke während der Demokratisierung 1989/90 in Erfurt und Eisenach. Dabei zeichnet sie besonders Aushandlungsprozesse zwischen den neuen und alteingesessenen Akteuren sowie ehemaligen Funktionsträgern des SED-Regimes und Arbeitslosen nach, so im Elitenwechsel und bei Wahlen. Ebenso wie in den anderen Beiträgen zu dem Band wird hier deutlich, dass die gesellschaftlichen Akteure weder in der DDR noch im Transformationsprozess ausschließlich ohnmächtig und passiv blieben, sondern oft aktiv an der praktischen Ausgestaltung und Umsetzung politischer Herrschaft mitwirkten. Zugleich verweist Price einleuchtend auf den Rückzug in geschützte Räume und den stillen Protest als wichtige Kontinuität des Verhaltens über den Umbruch von 1989/90 hinweg.
Insgesamt soll der Band die lange in der Historiographie vorherrschende Trennung zwischen dem sozialen Leben und dem Staat in der DDR verflüssigen und zeigen, dass sich hier Vergesellschaftung "im Modus der Vergemeinschaftung" (13, 36) vollzog - ein Prozess, der nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur und der DDR in den ostdeutschen Bundesländern vielfach positiv erinnert worden ist, obwohl von einer Gesellschaft auf der Makroebene nicht gesprochen werden kann. Diesen konzeptionellen Anspruch lösen die einzelnen Beiträge in unterschiedlichem Ausmaß ein. Auch wird das - im Untersuchungsansatz angelegte - Verhältnis zwischen sozialer Inklusion und Exklusion nicht systematisch analysiert, zum Beispiel anhand des Umgangs mit Ausländern in der DDR. Dazu finden sich lediglich Andeutungen zu Erfahrungen des Ausschlusses in Triebels Beitrag. Nicht zuletzt führt der praxeologische Untersuchungsansatz, der überzeugend die Rolle lokaler Akteure und konkrete Handlungsformen in begrenzten Räumen beleuchtet, zu einer Verengung auf die Binnenperspektive. Demgegenüber bleiben grenzüberschreitende Einflüsse - vor allem aus der Bundesrepublik - bei der Darstellung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft in der DDR weitgehend ausgeblendet. Allerdings tritt die Rolle der Bundesrepublik in den Ausführungen zur Transformationsphase deutlicher hervor.
Insgesamt vermittelt der Band trotz der dargelegten Grenzen anregende und weiterführende Überlegungen, sowohl im Hinblick auf die konzeptionelle Diskussion über das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in der DDR - einschließlich ihrer Auswirkungen auf das vereinte Deutschland - als auch für weitere empirische Studien. Damit schließt er an den Wandel der Forschung an, die sich in den letzten Jahren zunehmend auch den Transformationsprozessen in den 1990er Jahren zugewandt hat. Zudem wird das oft widersprüchliche Handeln konkreter Akteure in offiziellen Partizipationsräumen und in den Folgen bis zur Gegenwart analysiert.
Anmerkungen:
[1] Dietrich Geyer: "Gesellschaft" als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaats im 18. Jahrhundert, in: Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, hg. von Dietrich Geyer, Köln 1975, 20-52.
[2] Erstmals in Bezug auf Arbeit ausgeführt in: Martin Kohli: Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Sozialgeschichte der DDR, hg. von Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr, Stuttgart 1994, 31-61, hier: 38-48.
Arnd Bauerkämper