Sascha Salatowsky / Joar Haga (Hgg.): Frühneuzeitliches Luthertum. Interdisziplinäre Studien (= Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit; Bd. 20), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 337 S., 3 Farb-, 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13222-0, EUR 64,00
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Der vorliegende Sammelband geht aus der Arbeit an dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten internationalen Netzwerk "Lutherische Orthodoxie revisted. Konfessionelle Muster zwischen Identitätsverpflichtung und 'Weltoffenheit'" hervor, "das von 2016 bis 2019 die Frage nach der begrifflichen Fassung und dem historischen Verständnis einer bestimmten Ausprägung des Luthertums zwischen ca. 1580 und 1750 anhand theoretischer und praktischer Topoi diskutierte" (5).
Nach einer Einleitung von Sascha Salatowsky, in dem die Forschungsüberlegungen des Netzwerks und die Konfessionalisierungsdebatte kenntnisreich thematisiert werden, behandelt Sivert Angel die Abendmahlsauseinandersetzungen zwischen Niels Hemmingsen in Kopenhagen und Jakob Andreae, in die der dänische König und der sächsische Kurfürst verwickelt wurden. Diese Lehrauseinandersetzung macht die politische Dimension des Konfessionskonflikts sichtbar. Ebenfalls den politischen Implikationen der Konfessionsfrage wendet sich Hendrikje Carius in ihrem Beitrag über Herzogin Christine von Sachsen-Eisenach zu. Die reformierte Fürstin stand in engem Austausch mit dem lutherischen Theologen Johann Gerhard. Diese Beziehung zeigt zum einen die integrative Kraft des Luthertums, zum anderen aber auch die Wirkmächtigkeit konfessionell bestimmter Abgrenzungsprozesse. Neben seinen konfessionshistorischen Beschreibungen ist der Beitrag von Daniel Gehrt zu den theologischen Bildungsbemühungen lutherischer Pastoren und Schullehrern durch seine Quellenauswahl sehr interessant. Gehrt wendet sich, neben anderen Quellen, einer gleichermaßen noch wenig berücksichtigten und methodisch schwierigen Überlieferung zu, nämlich den Marginalien in Büchern, die von den Lesern eingetragen wurden, im konkreten Fall den Marginalien in Bibeldrucken. Die Bibellektüre der Zeitgenossen wird von ihm nicht nur als "intellektuelle Auseinandersetzung mit der heiligen Schrift" beschrieben, sondern auch als "eine Form der Meditation", gleichsam als eine religiöse Handlung (129).
Am Beispiel der Zweihundertjahrfeier der Reformation in Kopenhagen 1717 beschreibt Joar Haga die Bedeutung solcher Jubiläumsfeiern für die Selbstdarstellung des Herrschers, der damit sein Handeln heilsgeschichtlich überhöhen konnte. Jan van de Kamp wendet sich in seinem Beitrag der lutherischen Erbauungsliteratur am Beispiel der "Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion" von 1661 des Rostocker Geistlichen Theophil Großgebauer zu. Er konstatiert eine "relativ große Durchlässigkeit" für reformierte Texte in der lutherischen Erbauungsliteratur der Zeit (171). Emblematische Predigten am Beispiel von Predigten Samuel Benedikt Carpzovs, Paul Christian Hilschers und Valentin Ernst Löschers der Jahre um 1700 behandelt Stefan Michel. In pietistischen und aufklärerischen Milieus wurde diese Predigtart als "predigtgeschichtlicher Fetisch" der orthodoxen Theologen diskreditiert (173). In einem etwas ausführlicheren Beitrag rekonstruiert Sascha Salatowsky den Bildungsweg von Johann Gerhard auf der Basis des umfangreichen Nachlasses in der Forschungsbibliothek Gotha, der in den letzten Jahren in einem von der DFG geförderten Projekt erschlossen wurde. Er betont zu Recht den Quellenwert des Nachlasses und zeigt seine Bedeutung für die historische Forschung über die eigentliche Biographie Gerhards hinaus.
Michael Praetorius, Hofkapellmeister in Wolfenbüttel, zeitweise auch in Dresden tätig, steht im Mittelpunkt der Überlegungen von Beate Agnes Schmidt. Praetorius, der bedeutendste Musikschriftsteller seiner Zeit, wird als zutiefst von "apokalyptischem Denken und Endzeitvorstellungen" bestimmt charakterisiert, die sich unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg intensivierten und sein Werk tief prägten (298). Ein 'praktisches' Problem des Luthertums behandelt Christopher Voigt-Goy, nämlich, was mit Verstorbenen geschieht, die nicht der eigenen Konfession angehören, allerdings nur von theoretischer Seite in den Gutachten lutherischer Theologen. Die Reaktionen der Theologen waren vielgestaltig, lassen sich aber wohl auf eine Formel herunterbrechen: Sie unterschieden zwischen einfachen und halsstarrigen Calvinisten, ganz im Sinne von Luthers Forderung, auf die Schwachen Rücksicht zu nehmen. Das Fazit des Autors ist hingegen ernüchternd: "Irgendeine Form der religiösen, theologischen oder kirchlichen Anerkennung oder Wertschätzung anderskonfessioneller Lebensentwürfe ist mit den hier betrachteten Praxisentwürfen nicht verbunden." (309). Einem Kritiker der orthodoxen Theologie wendet sich Christian Witt in seinem Beitrag über Gottfried Arnolds "Unpartheyischer Kirchen- und Ketzer-Historie" zu. Detailliert beschreibt er Orthodoxie bei Arnold als "pluralitätsgeschuldete Selbst- und Fremdbezeichnung". Gemeint ist damit, dass Arnold den Begriff zum einen für eine Traditionsbildung positiv gebrauchte, zum anderen negativ als Zeichen für den Verfall der Kirche, ein Diktum, das weitreichende Folgen für die Sicht auf die lutherische Orthodoxie besaß.
Abgerundet wird der Band durch ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, ein Bibelstellenverzeichnis und ein Personenregister. Der Sammelband, der zugegebenermaßen etwas eklektisch unterschiedliche Beiträge zum Thema lutherische Orthodoxie versammelt, stellt das Thema in verschiedenen Beiträgen vor, die, wie es in der Natur der Sache liegt, mal weniger und mal mehr Neues und Informatives enthalten. Besonders hervorzuheben sind vielleicht in diesem Zusammenhang Hinweise auf Quellen, die bisher zu wenig beachtet wurden. In den verschiedenen Teilgebieten haben die Autorinnen und Autoren beachtenswerte Teilstudien zum Thema "Lutherische Orthodoxie" vorgelegt.
Thomas Fuchs