Ronny Heidenreich (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1971. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 320 S., 6 Abb., ISBN 978-3-525-35226-7, EUR 30,00
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"In einigen Fällen [...] werden jedoch auch Vorbehalte zur Funktionsübernahme durch den Genossen Erich Honecker geäußert" (148), berichtete die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Mai 1971 über Reaktionen aus der Bevölkerung zur Ablösung Walter Ulbrichts von der Spitze der SED. Nachzulesen ist der Bericht im Band für das Jahr 1971 der renommierten Reihe, in der das Stasi-Unterlagen-Archiv die geheimen Berichte an die SED-Führung zusammenstellt. 211 sorgfältig edierte Dokumente, die vollständig online verfügbar und durch eine Volltextrecherche erschlossen sind, stehen der Forschung zur Verfügung. Eine Auswahl findet sich in der Druckausgabe.
In der lesenswerten Einleitung ordnet der Bearbeiter Ronny Heidenreich die ZAIG-Berichte in den zeithistorischen Kontext und in den Forschungsstand ein. Fundiert arbeitet er heraus, welche Hinweise die ZAIG-Berichterstattung auf die Positionierung des Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke im Machtkampf an der Spitze der SED bietet. Demnach informierte der Minister Ulbricht zumindest auf diesem Weg nicht mehr über die innenpolitische Lage - obwohl die angespannte ökonomische Situation der DDR eine zentrale Rolle bei der Ablösung des Parteichefs spielte. Stattdessen leitete Mielke Berichte über wirtschaftliche Schwierigkeiten den Gegenspielern Ulbrichts zu. Auffällig ist, dass für das Jahr 1971 - gemessen am Zeitraum von 1953 bis 1989 - die geringste Anzahl innenpolitischer Unterrichtungen verzeichnet ist. Der Stasi-Chef, dessen Aufstieg in die engere Parteiführung nun begann, ließ intern auch analysieren, welche Wirkung die ZAIG-Berichte bei den Empfängern entfalteten, und versuchte, die Unterrichtung des MfS mit den Tagesordnungspunkten der Sitzungen des SED-Zentralkomitees zu verzahnen.
Deutlich wird in den ZAIG-Meldungen, dass dem MfS der Zusammenhang zwischen der ökonomischen Leistungskraft der DDR und der Loyalität der Bevölkerung zur SED bewusst war. Das zeigt nicht zuletzt der warnende Blick der Staatssicherheit auf die Unruhen in Polen, die auf das dortige schlechte Angebot an Waren und Dienstleitungen zurückgeführt wurden.
Breiten Raum nimmt die Berichterstattung über Produktionsausfälle und Störungen der Stromversorgung ein. Heidenreich weist auf die Achillesferse der DDR-Wirtschaft hin: Ohne die ausreichende Bereitstellung von Energie ließ sich das ambitionierte ökonomische Programm des neuen Parteichefs und die damit beabsichtigte sozialpolitische "Ruhigstellung des Landes" (27) nicht umsetzen. Die angespannte Lage in der Energiewirtschaft machte auch vor den Beschäftigten in den Kraftwerken nicht halt: Die ZAIG informierte - durchaus mit Verständnis - über die kurzzeitige Arbeitsniederlegung von 40 Monteuren im Kraftwerk Thierbach bei Leipzig, die gegen unzureichende Arbeitsbedingungen aufgrund der mangelhaften Bereitstellung von Wasser für die Körperhygiene protestierten.
Die Ursachen für Havarien oder eine unzureichende Planerfüllung in den Betrieben sah das MfS nicht in den systemimmanenten Defiziten der Planwirtschaft oder in den teils veralteten Anlagen, mit denen die Beschäftigten arbeiten mussten. Vielmehr schob der Staatssicherheitsdienst die Verantwortung für Missstände generell dem Leitungspersonal vor Ort zu.
Die marode Infrastruktur gefährdete aus Sicht des MfS auch die Durchführung des VIII. SED-Parteitags im Juni 1971. Eine einsturzgefährdete Kabelbrücke, so warnte die ZAIG, könnte die Stromversorgung großer Teile Ost-Berlins und damit auch des Tagungsortes unterbrechen. Über den Parteitag selbst, auf dem Honecker seinen neuen Kurs der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" verkündete, findet sich jedoch keine ZAIG-Information.
Zu den Themen der Berichterstattung gehörte auch die Fluchtbewegung aus der DDR. Das MfS unterrichtete vor allem punktuell über schwere Grenzzwischenfälle. Eine systematische Information der SED-Führung über diese Thematik durch die ZAIG ist jedoch nicht überliefert. Dabei stand die Parteispitze unter Druck, weil auch zehn Jahre nach dem Mauerbau immer noch hunderte Menschen die DDR verlassen wollten. Die Mehrzahl der sogenannten Grenzdelikte "bearbeitete" die Volkspolizei. Doch auch das MfS reagierte mit einer steigenden Zahl von Inhaftierungen wegen des Vorwurfs des "ungesetzlichen Grenzübertritts". 1970 verhaftete das MfS 608 Personen im Zusammenhang mit einem Fluchtversuch - ein Jahr später war die Zahl schon um 15 Prozent gestiegen. Das war fast die Hälfte aller Verhaftungen, die das MfS 1971 durchführte. Diese Zahlen verdeutlichen die große Dimension der Fluchtbewegung, die Heidenreich detailliert herausarbeitet. Trotz der massiven Repression ließ der Wunsch großer Teile der DDR-Bevölkerung, das Land zumindest kurzzeitig verlassen zu dürfen, nicht nach. Die latente Unruhe zeigte sich auch nach der Unterzeichnung des Vier-Mächte-Abkommens im September 1971, als das MfS die SED-Führung über kritische Stimmen in der Bevölkerung unterrichtete, weil sich für DDR-Bürgerinnen und -Bürger keine Reisemöglichkeiten eröffneten.
Die SED-Führung erhielt von der Geheimpolizei auch Kenntnis von Zwischenfällen mit den in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräften. Neben "Handlungen mit antisowjetischem Charakter" (240) informierte das MfS über die Entgleisung eines Militärtransports sowie einen Fall des Schusswaffengebrauchs von NVA-Soldaten gegen Angehörige der Sowjetarmee.
Obwohl die Berichterstattung viele Themen behandelte, bilden die ZAIG-Dokumente keinen "Seismograph[en] der Lage im Lande" (56), wie Heidenreich hervorhebt. Er verweist auf weitere parteiinterne Kanäle, die die SED-Spitze über die Situation in der DDR ins Bild setzten.
Die Informationen des MfS an die SED-Führung unterschieden sich inhaltlich 1971 kaum von denen in anderen Jahren. Die tiefgehenden Veränderungen des Jahres 1971 durch den Wechsel an der Spitze der SED spiegeln sich in den Berichten nur teilweise wider. Vielmehr zeichnen die ZAIG-Meldungen das Bild einer "scheinbaren Normalität" während des Machtwechsels von Ulbricht zu Honecker. Heidenreich hat eine gründlich recherchierte Edition vorgelegt, an der niemand vorbeikommt, der sich mit dem Beginn der Herrschaft Honeckers befasst.
Stefan Donth