Michael Gehler / Andrea Brait (Hgg.): Von den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa bis zum Zerfall der Sowjetunion 1985-1991. Eine Dokumentation aus der Perspektive der Ballhausplatzdiplomatie (= Historische Europa-Studien - Geschichte in Erfahrung, Gegenwart und Zukunft; Bd. 18), Hildesheim: Georg Olms Verlag 2023, 1772 S., ISBN 978-3-487-16139-6, EUR 196,00
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Die Jahre 1985 bis 1991 waren Schlüsseljahre für den Umbruch in der Sowjetunion und in ihrem Machtbereich. Wenngleich bereits 1980 mit Gründung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność in Polen erste Risse im Ostblock erkennbar wurden, ist es plausibel, den Beginn dieser Periode auf den Amtsantritt von Michail Gorbatschow zu datieren, dessen Reformanstöße eine zuvor undenkbare Eigendynamik entfalteten. Die Umbruchsphase endete mit der Auflösung des sowjetischen Imperiums und dem Untergang der UdSSR selbst 1991.
Michael Gehler und Andrea Brait legen in der von ihnen herausgegebenen Dokumentation 670 Aktenstücke österreichischer Diplomaten vor, die über diesen Umbruch berichtet haben. In der Regel handelt es sich um Berichte aus den Hauptstädten der Sowjetunion und der relevanten ost(mittel)europäischen Staaten, bisweilen aber auch um Analysen aus dem Wiener Außenministerium. Dabei nehmen die die Sowjetunion betreffenden Dokumente den meisten Raum ein; daneben liegt der Schwerpunkt auf der Berichterstattung aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR, während Rumänien nur am Rande und Bulgarien gar nicht erfasst ist. Berücksichtigt werden auch die Tagungen der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Aus der DDR stammen weniger Dokumente als erwartet, weil dazu bereits die Edition "Österreich und die deutsche Frage" vorliegt. [1]
Während die Dokumente chronologisch abgedruckt sind, ist die ausführliche Einleitung nach den einzelnen Staaten gegliedert. Leider geben die Herausgeber keinen problemorientierten Überblick zur Sicht der österreichischen Diplomatie auf die Entwicklungen in der Sowjetunion und in ihrem Imperium. Sie hangeln sich vielmehr an den ihnen wichtig erscheinenden Dokumenten entlang. Das führt dazu, dass etwa in dem Abschnitt zur Sowjetunion zwischen außen- und innenpolitischen Themen hin- und hergesprungen wird; manchmal werden Ereignisse zweimal an unterschiedlichen Stellen und mit unterschiedlichen Daten erwähnt. Das trifft etwa auf die wichtige Allunions-Parteikonferenz zu, die einmal auf den 30. Juni (24) und ein anderes Mal (korrekt) auf den 28. Juni bis zum 1. Juli 1988 (27) datiert wird.
Dabei entgehen den Herausgebern manchmal wichtige Zusammenhänge. So machen sie einerseits auf den Ausbau des Präsidialsystems in der Sowjetunion 1990 aufmerksam, verweisen aber nicht darauf, dass dies mit einer Entmachtung der KPdSU einherging, obwohl das in einem Botschaftsbericht aus Moskau (Dok. 481) ausführlich thematisiert wird. Außerdem ist die Einleitung nicht widerspruchsfrei: So heißt es an einer Stelle mit Bezug auf Dok. 210 vom Juli 1988, dass die Solidarność "gar nicht über den Rückhalt in der Bevölkerung verfügte, der allgemein angenommen wurde" (44), während einige Seiten später der Opposition in Polen, die sich ja hauptsächlich in der Solidarność sammelte, ein "derartige[r] Zulauf [zugesprochen wird], dass die kommunistische Regierung gezwungen war, einen 'Runden Tisch' zu etablieren" (51). Die Auflösung bringt ein Blick in das Dokument, in dem die Sicht eines polnischen Bischofs referiert wird. Das verweist wiederum auf ein Hauptproblem der Einleitung, bei der oftmals im Unklaren bleibt, ob es sich um eine allgemeine Darstellung, eine Wiedergabe der Sicht des Berichtenden oder eines von diesem Befragten handelt.
Bei alldem werden aufschlussreiche Dokumente präsentiert. Genannt sei etwa die Aufzeichnung des Leiters der Ostabteilung, Ernst Sucharipa, vom August 1988 über den Begriff und die unterschiedlichen Bewertungen des von Gorbatschow immer wieder bemühten "Gemeinsamen Europäischen Hauses" (Dok. 227). Sucharipa verwies darin unter anderem auf die dem Konzept inhärenten Widersprüche, das von den Akteuren in Ost und West auch sehr unterschiedlich interpretiert wurde. Von besonderem Interesse ist ebenfalls ein Bericht aus Warschau vom Dezember 1989, dem zufolge bereits damals auf der Grundlage eines Zeitschriftenartikels und von Befragungen von PVAP-Angehörigen ein Militärputsch in der Sowjetunion für möglich gehalten wurde (Dok. 460). Insgesamt bieten die Dokumente ein buntes Kaleidoskop von österreichischen Ansichten über die Vorgänge in Ost(mittel)europa und in der Sowjetunion. Für diejenigen, die sich mit der österreichischen Perzeptionsgeschichte dieser Prozesse beschäftigen, stellt die Dokumentation eine wichtige Quellensammlung dar.
Die Dokumente selbst tragen neben dem Datum als Titel immer die Original-Betreffzeile; darunter sind die Geschäftszahlen aus dem Aktenvorgang genannt, genauso wie der Entstehungsort und (meistens) der Verfasser. Der Stellenwert des jeweiligen Dokuments für die Meinungsbildung im Außenministerium bleibt freilich unklar, da nicht vermerkt ist, für wen es bestimmt war und wer es abzeichnete. Wie die österreichische Außenpolitik auf der Grundlage dieser Berichterstattung formuliert wurde, lässt sich daher nicht nachvollziehen. Außerdem sind fast alle Dokumente gekürzt, ohne dass etwas zum Inhalt der gestrichenen Passagen zu erfahren ist. Schließlich wird auf jegliche Kommentierung verzichtet, sodass der Leser sich über die angesprochenen Sachverhalte selbst informieren muss. Insofern ist die bereits erwähnte Edition österreichischer Dokumente zur deutschen Frage benutzerfreundlicher, denn ein Glossar, eine Zeittafel und das Personenregister können eine Kommentierung nicht ersetzen.
Nicht unstrittig dürfte zudem das von beiden Herausgebern in der Einleitung mitgelieferte Urteil über die österreichische Diplomatie bleiben: Diese habe die damaligen Entwicklungen "nicht durch eine bündnisgebundene, ideologische und nordatlantisch-westliche Brille biased, einseitig, parteiisch und verzerrt wahrgenommen". Die Dokumentation liefere vielmehr "recht interessensungebundene sowie relativ objektive und unbefangene Berichte" (95). Abgesehen davon, dass selbst der ausgewogenste diplomatische Bericht stets subjektiv eingefärbt bleibt, ist ein solches Verdikt über die westeuropäische und nordamerikanische Berichterstattung schwerlich angebracht. [2] Und verfolgte nicht auch das neutrale Österreich klar eigene Interessen? Zu den zahlreichen internationalen Editionen diplomatischer Akten, die den welthistorischen Umbruch 1989/91 ausleuchten, bildet diese Dokumentation jedenfalls eine willkommene Ergänzung, die eine wahrhaft multiperspektivische Betrachtungsweise ermöglicht.
Anmerkungen:
[1] Gehler, Michael / Graf, Maximilian (Hrsg.): Österreich und die deutsche Frage 1987-1990. Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit, Göttingen 2018.
[2] Neben den entsprechenden Jahrbänden 1985-1991 der (west-)deutschen "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland" (AAPD) sei hier exemplarisch verwiesen auf Smith, Richard (Hg.): Britain and the Revolutions in Eastern Europe, 1989. Documents on British Policy Overseas, Series III, Volume XII, London/New York 2020 (siehe http://www.sehepunkte.de/2020/09/33624.html) für westliche Perspektiven, auf die Jahrbände 1990 und 1991 der "Diplomatischen Dokumente der Schweiz" (DDS), Bern 2021 und 2022 (siehe http://www.sehepunkte.de/2021/07/35541.html), für die Sicht eines weiteren neutralen Staates oder für die sowjetische Perspektive auf Karner, Stefan [u.a.] (Hrsg.): Der Kreml und die Wende 1989. Dokumente, Innsbruck 2014.
Hermann Wentker