Clemens Villinger: Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt? Konsum, soziale Ungleichheit und der Systemwechsel 1989/90 (= Kommunismus und Gesellschaft; Bd. 11), Berlin: Ch. Links Verlag 2022, 576 S., ISBN 978-3-96289-134-3, EUR 40,00
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Am Abend der Volkskammerwahl am 18. März 1990 wurde Otto Schily im Fernsehen zum Ausgang der Wahl in der DDR interviewt, die mit einem klaren Erfolg der CDU endete, den politische Beobachter und die Öffentlichkeit so nicht erwartet hatten. Auf die Frage nach den Gründen für das überraschend eindeutige Wahlergebnis zog das ehemalige Gründungsmitglied der Grünen eine Banane aus dem Jackett und hielt sie in die laufenden Kameras. Damit unterstellte er den ostdeutschen Wählerinnen und Wählern ökonomische Motive für ihre getroffene Wahlentscheidung. Demnach spielte der Wunsch nach uneingeschränktem Zugang zu westlichen Konsumgütern die entscheidende Rolle bei der breiten Zustimmung zur raschen Herstellung der deutschen Einheit, die in dem Wahlergebnis zum Ausdruck kam. Diese Interpretation ist in der Forschung jedoch umstritten. Clemens Villinger nimmt das zum Anlass, um "die Konsumpraktiken und die damit verbundenen Erfahrungen der in Ostdeutschland lebenden Bevölkerung [...] in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen" (10). Aus alltagsgeschichtlicher Perspektive geht er der Frage nach, welche Bedeutung Konsum für die "Vorgeschichte des Umbruchs, für den Systemwechsel von 1989/90 und für die rückblickende Bewertung der gesamten Transformationszeit" gespielt hat. Dabei konzentriert er sich auf die Konsumfelder Ernährung und Wohnen. Villingers nunmehr gedruckt vorliegende Dissertation entstand im Rahmen des Forschungsprojekts "Die lange Geschichte der 'Wende'. Lebenswelt und Systemwechsel" am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam.
Als Quellengrundlage dienen rund 150 qualitative Interviews aus den 1990er Jahren, die im Rahmen von drei sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten erhoben wurden und die der Autor für seine Studie noch einmal ausgewertet hat. Dafür entwickelte Villinger ein aufwendiges fünfstufiges Verfahren, "um sowohl die zugrunde liegenden Produktionslogiken und Theoreme der Primärstudie zu erkennen als auch deren unreflektierte Reproduktion in der Zweitauswertung zu vermeiden" (46). Die Zweitauswertung fördere neue Erkenntnisse zu Strategien individueller Lebensbewältigung zutage, "die sich aus anderen Materialien nicht gewinnen lassen" (74). Doch die Quellenauswahl legt automatisch die Entscheidung für die Auswahl der Fallstudien (Merxleben, Wurzen und Leipzig) fest, die auch schon im Zentrum der drei sozialwissenschaftlichen Projekte standen. Damit rücken drei unterschiedliche "Siedlungstypen" in den Fokus: ein Dorf, eine Klein- und eine Großstadt. Darüber hinaus hat der Verfasser eigene Interviews durchgeführt und staatliche Akten ausgewertet - insbesondere im Bundesarchiv, Stasi-Unterlagen-Archiv, Landesarchiv Thüringen Hauptstaatsarchiv Weimar, Sächsischen Staatsarchiv Leipzig sowie Stadtarchiv Bad Langensalza.
Der Hauptteil der Studie enthält drei annährend gleich große Kapitel zu den drei Fallstudien, wobei der Aufbau immer demselben Muster folgt: Zunächst werden der Untersuchungsort und die zweitausgewerteten Interviews vorgestellt. Anschließend folgt die Analyse der Konsumfelder Ernährung und Wohnen, und zwar in chronologischer Abfolge (1980er Jahre, Systemwechsel 1989/90, 1990er Jahre). Dem schließt sich eine Analyse der Erzählmuster und Narrative der Befragten an. Im ersten Kapitel unterstreicht Villinger die Bedeutung der betrieblichen Kantine für die Ernährungsgewohnheiten und Essensrhythmen in Merxleben. Die relativ große Bedeutung der Hauswirtschaft als Nebenerwerb war nicht primär auf die akute Existenzsicherung zurückzuführen, sondern erklärt sich aus dem Bedürfnis vieler Bewohnerinnen und Bewohner, zusätzliche Konsumwünsche zu befriedigen. Dabei waren die Strukturen der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) und der industriellen Nahrungsmittelproduktion "eng mit den persönlichen Hauswirtschaften verflochten" (127). Letztere interpretiert Villinger "als ein Indiz für die Akzeptanz des Leistungsprinzips als legitime Ursache sozialer Ungleichheit" (136). Der Systemwechsel von 1989/90 bedeutete für viele Menschen auf dem Lande eine gravierende Zäsur, denn mit der Eröffnung von Supermärkten und dem Wegfall der alten Handelsstrukturen verlor die Selbstversorgung mit Lebensmitteln an Bedeutung.
Bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln konnte die Bevölkerung 1989/90 in Wurzen, das im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht, auf bereits zuvor gesammelte Erfahrungen und "Wissensbestände" (327) zurückgreifen. Dazu habe "neben den dynamischen Preisen im Handel auch die Konkurrenz beim Einkauf bestimmter Lebensmittelsortimente" gehört. Mit den Intershops habe die Bevölkerung nicht nur "die Regeln des Konsums in der Marktwirtschaft" (218) lernen können. Dadurch seien vielmehr auch "ökonomische Zukunftserwartungen" geprägt worden, wobei das von der SED ausdifferenzierte Einkaufssystem neue soziale Ungleichheit produziert habe, da für den Erwerb westlicher Güter der Besitz entsprechender Devisen notwendig war. Die Privatisierung des Einzelhandels zeigte eine "ambivalente Wahrnehmung der Marktwirtschaft" (264). So gab es zwar eine hohe Zustimmung zum Modell der Marktwirtschaft, die aber mit einer Forderung nach staatlicher Regulierung einherging. Dagegen entsprach die Entwicklung des Wohnungsmarktes nach 1989/90 nicht ganz den Vorstellungen vieler Bürgerinnen und Bürger. Die Annoncen und Berichterstattung im Wurzener Tageblatt verdeutlichen, dass neue Akteure - Bauunternehmer, Finanzdienstleister, Immobilienmakler - den Markt beherrschten. Einkommensunterschiede und der damit verbundene Statuswandel begannen sich ab Ende 1993 auf die Stadtentwicklung in Wurzen auszuwirken.
Sowohl westdeutsche Handelsgesellschaften als auch private Geschäftsleute nutzten die Wiedervereinigung, um neue Handelsstrukturen in Ostdeutschland aufzubauen. In der Folgezeit entstanden erste Einkaufszentren am Stadtrand beziehungsweise im Umland der Städte, wie das Beispiel von Leipzig im dritten Kapitel demonstriert. Für die Warenhausunternehmen entwickelte sich das Jahr 1991 "zum umsatzstärksten Jahr der Nachkriegsgeschichte" (358). Von einem Konsumrausch kann jedoch nicht die Rede sein, zumal die rasch zunehmende Arbeitslosigkeit die Konsummöglichkeiten der Leipziger Bevölkerung einschränkte. Ostdeutsche Konsumentinnen und Konsumenten begannen damit, Konsumgüterpreise zu vergleichen, um eine optimale Kaufentscheidung treffen zu können. Unterstützung erhielten sie von Verbraucherratgebern, wie der Zeitschrift test & rat, die speziell für die ostdeutschen Bundesländer bis zum Oktober 1994 herausgegeben wurde. Die ausgewerteten Interviews zeigen nicht nur "eine breite Zustimmung zum Prinzip des marktwirtschaftlich organisierten Konsums", sondern auch ein "gewisses Vertrauen in die eigene Fähigkeit und die eigene Leistungsbereitschaft, um sich in den widrigen Umständen des Umbruchs zu behaupten" (473).
Villinger hat eine klug konzipierte Studie vorgelegt, in der die ostdeutschen Konsumentinnen und Konsumenten als Subjekte eigenständigen Handelns erscheinen. Er betont zu Recht die langanhaltende Prägekraft individueller Erfahrungsräume über die Grenze der politischen Zäsur von 1989/90 hinweg. Außerdem liefert er wichtige Anregungen für den methodischen Umgang mit sozialwissenschaftlichen Daten, vor allem zur Zweitauswertung von qualitativen Interviews. Das Buch hat durch den etwas schematisch wirkenden Aufbau, die mitunter langen Zitate und die Wiederholung mancher Ergebnisse (etwa zur Relevanz von Konsumforderungen in der friedlichen Revolution 1989) einige Überlängen. Villingers Feststellung, die "moralisch aufgeladene Frage nach sozialer Gerechtigkeit" habe 1989 "Hunderttausende Menschen zur Teilnahme an den Protesten" bewegt (504), bleibt etwas spekulativ. Gleichwohl ist der sehr lesenswerten Untersuchung eine große Leserschaft zu wünschen.
Dierk Hoffmann