Thomas Winkelbauer (Hg.): Die Habsburgermonarchie (1526-1918) als Gegenstand der modernen Historiographie (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Bd. 78), Wien: Böhlau 2022, 450 S., ISBN 978-3-205-21660-5, EUR 80,00
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Thomas Winkelbauer: Ständefreiheit und Fürstenmacht 1522-1699. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter. Teil 1, Wien: Ueberreuter 2003
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Der Band geht auf die Jahrestagung des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 2013 zurück. Der Band hat Kompendiencharakter. Im ersten Teil wird die Habsburgermonarchie in den Geschichtsschreibungen der Habsburger Länder vorgestellt, im zweiten Teil in Historiographien außerhalb. Dass ein Beitrag zu Spanien nicht den Weg in den Band gefunden hat, ist schade.
Thomas Winkelbauer gibt in der ersten hundertseitigen, umfassend biobibliographischen Abhandlung einen Überblick über die (deutsch)österreichische Historiographie: So gut wie alle deutschsprachigen Historiker Österreichs fühlten sich als "deutsche Historiker (in Österreich)" (30). In der Zwischenkriegszeit war man überzeugt von der "Kulturmission" "des deutschen Volks in Österreich" (66). Die einzige Gegenmeinung vertrat Ludo Moritz Hartmann: Das Habsburgische Empire sei ein zusammengeraubtes und angeheiratetes Konglomerat (70). Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die konservativ-katholische Position einer Habsburgermonarchie als Gegenmodell zum Nationalismus des Deutschen Reichs Raum, bevor nun in Zeiten des Postkolonialismus die Frage nach Zentrum und Peripherie und Forschungspluralismus das Bild differenzieren.
Tibor Frank behandelt die Österreichisch-Ungarische Monarchie in der ungarischen Geschichtsschreibung. Er stellt die traditionelle Zweiteilung zwischen Anhängern nationaler Unabhängigkeit und Sympathisanten der Habsburger Tradition am Beispiel des liberalen Historikers Henrik Marczali und der konservativen respektive radikalen Zwischenkriegshistoriker Gyula Szekfü und Oszkár Jászi vor. Die Doppelmonarchie wurde als Zeit der Dekadenz gefasst - nach 1918 mit "einer gewissen Melancholie" (148).
Joachim Bahlcke skizziert die Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern entlang der Bruch- und Verknüpfungslinien im "Erfahrungsraum und Raumkonzept". Eine nationaltschechische Geschichtsdeutung stellte sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts den deutsch-österreichischen Nationalkonzepten gegenüber (165). Entlang der tschechisch-deutschen Sprachgrenze verfochten deutschböhmische und deutschmährische Historiker eine imperiale gesamtdeutsche Kulturidee. Die Universitätsreform Ende des 19. Jahrhunderts stärkte Österreichische Rechts- und Reichsgeschichte als Fach. Nach 1918 setzte die "Entösterreichung" ein (177). In den letzten zwei Jahrzehnten allerdings werde der Kulturmarkt von den Habsburgern in Populärdarstellungen, Filmen, Konzerten, Devotionalien überschwemmt.
Elena Mannová kümmert sich um die slowakische Historiographie. Mangels "territorial-administrativer und politischer Rechtfertigung" (186) griff das Nationalstaatskonzept "Slowakei" auf kulturell-ethnographische Begründungen zurück. "Erbfeinde" sind im zugehörigen Narrativ die "Magyaren", nicht die Habsburgermonarchie, die zu Zeiten marxistischer Geschichtsschreibung als Herrschaft feudaler und religiöser Unterdrückung erscheint. Nach 1989 gehört die Habsburgermonarchie zu "unserer Vergangenheit" (193) einer sich europäisierenden Slowakei.
Peter Vodopivec rekapituliert die slowenische Geschichtsschreibung. Die Tschechen und Slowenen hätten Angst vor Großdeutschland, Polen und Rumänen vor Russland, die Südslawen vor dem italienischen Irredentismus gehabt, die Habsburgermonarchie sei als das "kleinere Übel", der Eintritt in das Königreich Jugoslawien nach 1918 als Befreiung verstanden worden. Seit dem zweiten Weltkrieg habe sich das Geschichtsbild langsam geändert, nachdem Bildungsinstitutionen schon länger eine slowenische Nationalkultur befördert hätten. Mit der Habsburgermonarchie beschäftige sich die slowenische Historiographie nach wie vor ungern.
Mit dem Niedergang des Mitteleuropa-Mythos in den 80er Jahren habe das Interesse der italienischen Historiographie an der Habsburgermonarchie nachgelassen, so Antonio Trampus; in letzter Zeit kehre es in allgemeiner Form als Interesse an Imperienbildung wieder, darüber hinaus sei das Interesse auf Habsburg als Dynastie gewachsen. Anders sehe es bei der Regionalgeschichtsschreibung Norditaliens mit der Habsburgermonarchie als zentralem Geschichtsfaktor der eigenen Region aus.
Maciej Janowski konstatiert, dass die Habsburgermonarchie in der polnischen Geschichtsschreibung in aller Regel allenfalls Aspekt verschiedener Perspektiven der nationalen Geschichtsschreibung, so der Kultur-, Wirtschafts-, Gesellschaftsgeschichte, gewesen sei. Eine Ausnahme machten Józef Chlebowczyk (1924-1985), der die Identitätsformierung verschiedener Gesellschaftsgruppen im 19. Jahrhundert untersuchte, und Henryk Wereszycki (1898-1990), der die zeitgenössische Sicht auf Reformmöglichkeiten im 19. Jahrhundert - des kleineren Übels gegenüber Russland - ausleuchtete.
Rudolf Gräf verfolgt die rumänische Geschichtsschreibung seit dem 17. Jahrhundert und ihr Bild von der Habsburgermonarchie als fremder Macht, Befreierin von den Türken, Eroberin, Lehrerin, Beschützerin und Feindin, bis dann das auch in Rumänien in die Nationalgeschichtsschreibung eingelagerte Habsburgbild ebenfalls in der Vielfalt historischer Perspektiven der letzten Jahrzehnte aufgesplittet worden sei.
Miloš Ković untersucht die serbische Historiographie. Er dreht die Fragestellung mit hohem Gewinn. Statt zu fragen, welches Habsburgbild die Historiographie erzeugte, fragt er danach, welche Historiographie die Zugehörigkeit zu Habsburg erzeugte. Nach hundert Jahren "feverish hostility" (204) in der Spannung zwischen Habsburger Imperialismus und serbischem Nationalismus, der theoretischen Reorientierung an Pariser und Londoner Geschichtsschreibungsmodellen im Nachfeld staatlicher Unabhängigkeit 1878, der Diskussion der Kriegsschuldfrage nach 1918, dem Zweiten Weltkrieg als zweiter Befreiung von mitteleuropäischer Hegemonie, dem Neonationalismus nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens gehe es darum, Geschichte zu verstehen, statt normative Urteile zu fällen und alte Phrasen zu wiederholen (205).
Wolfram Siemann und Gabriele Haug-Moritz verfolgen die Habsburgermonarchie in der deutschen Geschichtsschreibung älterer und neuer Provenienz. Siemann geht dem kleindeutsch-preußischen Geschichtsbild bis 1945 nach. Die Formel "Preußen geht in Deutschland auf" (307) grenzte Österreich aus. "Preußentum" und "Protestantismus" (308) seien Identitätsanker geworden, bis das Deutschtum als Rasse einige Jahre zum Großdeutschtum ausgedehnt worden sei - mit kurzeitig katastrophalem Erfolg. Haug-Moritz sieht die Habsburgermonarchie als Kernproblematik einer "borussianischen Niedergangserzählung" in der reichsgeschichtlichen Forschung der BRD, die "die Frage nach der In- und Exklusion der Habsburgermonarchie" (296) als ein Diskurszentrum bewahre.
Robin Okey gibt einen Überblick über britische Arbeiten zur Habsburgermonarchie. Bis 1945 hätten sie einen begrenzten Umfang. Habsburg für sich sei mehr von Journalisten und Diplomaten als von Historikern behandelt worden. Allerdings sei Habsburg als Akteur auf der politischen Bühne neben Großbritannien Thema führender Historiker gewesen (323). Nach 1945 wurde Nationalismus und Nationenbildung zum Leitthema der Historiographie. Vor dieser Folie interessierte jetzt der Fall Habsburg (332). Postkolonial wird das mit Untersuchungen zur Historizität von Empire und Herrschaft fortgeführt, bei denen die Habsburgermonarchie als Vergleichsmodell zum British Empire dient.
In den USA blieb die Habsburgermonarchie Gary B. Cohen zufolge bis nach dem Zweiten Weltkrieg allenfalls von Historikern europäischer Herkunft beachtet. Erst mit Europa als Bühne amerikanischer Politik änderte sich dies. Die amerikanische Historiographie habe nun Habsburg im Rahmen der European History im weiteren politischen Kontext des Heiligen Römischen, Osmanischen, Russischen und Britischen Reichs verortet. Seit 1980 würde die alte Meistererzählung der Nationalismen versus Habsburg aufgebrochen und stattdessen nach der Herausbildung nationaler Identitäten lokal und sozial differenziert gefragt.
Marie-Elizabeth Ducreux stimmt in Bezug auf Frankreich hier ein: Keine Beschäftigung mit der Habsburgermonarchie an sich, sondern Kontextualisierung in den Ländern Mitteleuropas und eine "Fragmentierung des Staates" (376) in den letzten Jahrzehnten nach Auflösung der Nationalstaatsachse zu einer sowohl makro- wie mikrohistorischen Differenzierung der Kultur- und Sozialgeschichte des Politischen.
Olga Pavlenko verfolgt die Konjunkturen der russischen Beschäftigung mit der Habsburgermonarchie. Eine zentrale Achse sei der Diskurs um das Slawentum gewesen, eine zweite der Vergleich mit dem Russischen Reich. Jeweils sei es um die Spannungen zwischen Mannigfaltigkeit und Einheit gegangen. Vor der Sowjet-Historiographie habe der Panslawismus, danach die positive Beschreibung nationaler Befreiungsbewegungen im Mittelpunkt gestanden. In neuerer Zeit seien die Fragen nach dem historischen Gedächtnis, nach Modernität sowie nach der praktischen politischen Gestaltungsmöglichkeit, Interessensperspektiven der russischen Geschichtsschreibung geworden.
Mit der belgischen Diskussion der österreichischen Niederlande schließt Klaas Van Gelder den Band ab. Der belgisch-unitaristische Nationalismus habe nach 1830 den "eigentlich-immer-schon" belgischen Volkscharakter hervorgehoben; flämische Geschichtsschreiber reproduzierten das nach 1850. Die Zugehörigkeit zu Frankreich, dann zu den Niederlanden bis 1830 entschärfte die direkte Konfrontation mit Habsburg in der Nationalgeschichtsschreibung, die sich seit ihrer Professionalisierung Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr differenzierte, auch was Habsburg anbelangt.
Der Band sollte umfassend Literatur zur Habsburgermonarchie vorstellen. Das ist ihm gelungen. Unbeabsichtigt zeigt er weit mehr. Er erweist sich als Versuchsanordnung in Sachen Historiographie. Ausnahmslos - gesetzhaft - folgt die Rezeption der Habsburgermonarchie den politischen Verfassungsbedingungen vor Ort und ihren Wendungen. Geschichtsschreibung zeigt sich als polemisch-politisch-kulturelles Diskursorgan. Differenzierungen sind nur beigeordnete Korridore davon. Es ist optimistisch zu glauben, dass es sich bei den heutigen Turns und Revisionen der Geschichtsbilder, bei unseren Narrationen, Meister her oder hin, anders verhält.
Martin Gierl