Martin Rohde: Nationale Wissenschaft zwischen zwei Imperien. Die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften 1892-1918, Göttingen: V&R unipress 2022, 514 S., ISBN 978-3-8471-1390-4, EUR 65,00
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Hans-Joachim Schmidt / Martin Rohde (Hgg.): Papst Johannes XXII. Konzepte und Verfahren seines Pontifikats, Berlin: De Gruyter 2014
Peter Kurmann / Martin Rohde (Hgg.): Die Kathedrale von Lausanne und ihr Marienportal im Kontext der europäischen Gotik, Berlin: De Gruyter 2004
Hugo O. Bizzarri / Martin Rohde (éds.): La mort du roi: réalité, littérature, représentation. Der Tod des Königs: Realität, Literatur, Repräsentation, Wiesbaden: Reichert Verlag 2021
Mit der überarbeiteten Fassung seiner Innsbrucker Doktorarbeit hat Martin Rohde eine lang vermisste Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Ukraine im Zeitalter ihrer nationalen Emanzipation vorgelegt. Die 1895 ihre Aktivitäten aufnehmende Wissenschaftliche Ševčenko-Gesellschaft (Naukove Tovarystvo im. Ševčenka, NTŠ) "operierte [...] am Herzen eines Nationsbildungsprojekts" (11), für welches das Habsburger Kronland Galizien eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat. Dort hat die Entfaltung der modernen ukrainischen Wissenschaften ihre ersten entscheidenden Impulse empfangen, und berühmte Gelehrte wie der Historiker Mychajlo Hruševs'kyj, der Anthropologe Fedir Vovk, der Philologe Stepan Smal'-Stoc'kyj, der Politiker und Pädagoge Oleksander Barvins'kyj oder auch der Schriftsteller und Journalist Ivan Franko haben mit der "Akademie" eine produktive Wirkstätte erhalten.
Die eminente Bedeutung des NTŠ ergibt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund des gescheiterten Versuchs der Galizier, in Lemberg eine ukrainische Universität zu gründen. Trotz häufiger finanzieller Sorgen und administrativer Bedrängnis durch Wien sowie die polnisch dominierte Kronlandsverwaltung hatte die Einrichtung ihren legitimen Platz im österreichischen Verfassungsstaat. Darüber hinaus war sie Kommunikationszentrum und Diskursraum auch für Intellektuelle, Publizisten und Wissenschaftler aus dem Russländischen Reich. Insofern stellte das NTŠ ein Institut imperialer und transnationaler Austauschprozesse und ein anschauliches Beispiel europäischer Verflechtungsgeschichte dar, was zu zeigen zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit ist. Rohde will untersuchen, "inwiefern soziale und kulturelle Räume eine nicht-dominante Wissenskultur in imperialen Kontexten und darauf aufbauend Forschungen und Kommunikationsstrategien prägten" (13). Dabei unterstreicht er, dass er nicht davon ausgehe, monokulturelle Prozesse untersuchen zu müssen, weil die Nationalisierung ukrainischer Akteure keiner Wirkung naturgesetzlicher Kräfte zu verdanken gewesen sei, sondern der Interaktion mit ihrer nichtukrainischen Umgebung. Entsprechend dient dem Verfasser als Arbeitshypothese die Annahme, dass die in der Gesellschaft betriebene nationale Wissenschaft im Kern eine frontier-Wissenschaft gewesen sei. Der habsburgische "Möglichkeitsraum" habe anders als das Zarenreich eine vergleichsweise freie Entfaltung und wissenschaftliche Beschäftigung erlaubt, aber gleichzeitig zur Intensivierung einer polnisch-ukrainischen Frontstellung beigetragen. Zudem sieht Rohde mit seiner Untersuchung eines "Vereins" ein bisher wenig beachtetes Forschungsobjekt der Wissenschaftsgeschichte in den mikroperspektivischen Blick genommen und glaubt, damit Neuland beschritten zu haben, worüber man allerdings diskutieren kann.
Die Studie wird in drei größeren Teilen präsentiert. Unter der Überschrift: "Ukrainische Wissenskultur" werden Begriffe wie "imperiale Wissenschaft" definiert und die Entwicklung des NTŠ von einer literarischen Gesellschaft zur Wissenschaftsvereinigung nachgezeichnet. Dabei wird Franko als Organisator und Herausgeber vorgestellt sowie seine immense Bedeutung für die Beförderung landeskundlicher und ethnografisch-statistischer Forschungsprojekte herausgearbeitet. Auch die neben dem Poeten beiden wichtigsten Inspiratoren und Organisatoren Barvins'kyj und Hruševs'kyj finden entsprechende Würdigung. Ersterer, dessen konservativ-klerikale Ausrichtung bei den Radikalen wie auch bei den Russophilen auf wenig Zustimmung traf, hat dessen ungeachtet sehr wesentlich zum Auf- und Ausbau der Gesellschaft beigetragen - nicht zuletzt als Administrator und durch das Einwerben von Finanzmitteln und Subventionen, die für langfristige Forschungsvorhaben unentbehrlich waren. In diesen Abschnitten gelingt es dem Verfasser sehr gut, die unterschiedlichen Gruppeninteressen sowie deren politische und ideologische Vorstellungen zu identifizieren, mit denen ein Präsident wie Barvins'kyj sich auseinanderzusetzen hatte, während er zudem versuchen musste, diese Parteien irgendwie zusammenzubringen.
Diese Absicht einigermaßen durchzusetzen, gelang aber erst Hruševs'kyj, dessen Berufung auf den Lemberger Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte und die zeitgleiche Wahl zum Vorsitzenden des NTŠ eine Zäsur und einen Neubeginn darstellten. Zum einen wurde unter seiner Ägide das wissenschaftliche Profil der Gesellschaft geschärft, und als Untertan des Zaren rückte er zum anderen die russländische Ukraine viel stärker ins Blick- und Arbeitsfeld der Habsburger Ukrainer. Akademisierung und Nationalisierung wurden nun zu den Signa der von Hruševs'kyj geleiteten und inspirierten Wissenschaftseinrichtung.
Der zweite Abschnitt des Buches ist Galizien als Gegenstand von Forschung und Bearbeitung durch den NTŠ gewidmet. Hier wurde das österreichische Kronland - glaubt man dem Verfasser - vom Grenzraum zum ethnografischen Territorium. Dessen "junge scientific community" (198) in Lemberg hatte dabei erhebliche Hürden zu überwinden. Solche stellten nicht zuletzt die Sprachen dar, da Rohde nicht ganz zu Unrecht hervorhebt, dass die "Vereinsleitung symbolische Kommunikation über den konkreten wissenschaftlichen Austausch stellte" (198), wodurch die Rezeption in Russland erschwert wurde, da ukrainische Texte und ukrainische Wissenschaftssprache dort strikten Verboten unterlagen. Gleichzeitig wurde aber die Fachzeitschrift Zapysky NTŠ auch in deutscher Sprache publiziert, beziehungsweise es gehörten deutsche und französische Abstracts sowie Paralleltitel zum Standard zahlreicher Druckwerke der Gesellschaft; auch Hruševs'kyj lag nach einiger Zeit viel daran, vor allem seine Sicht der Geschichte der Ukraina-Rus' in europäischen Sprachen bekannt zu machen.
Mobilisierung und nationale Wissenschaft im Krieg untersucht Rohde im letzten Abschnitt. Hier werden die Verflechtungen des NTŠ mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Vereinen bzw. Organisationen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs thematisiert und das Schicksal der Gesellschaft und ihrer Mitglieder während der russischen Okkupation dargestellt. Dem folgt die Erörterung der geopolitischen Diskurse über Osteuropas Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel der Nationalgeografen Stepan Rudnyc'kyj und Antoni Sujkowski. Deren Beiträge zu Landes- und Volkskunde der Ukraine und Polens werden ausführlich untersucht, Mythenbildungen identifiziert und die Anwendung anthropologischer Typisierungen als Verfahren des zeitbedingten "rassistischen Modernismus" (387) kritisch beleuchtet und eingeordnet.
Als Resümee wird von Rohde vor allem hervorgehoben, dass die NTŠ die erste wissenschaftliche Organisation gewesen sei, die sich für alle ukrainischen Länder verantwortlich erachtete. Allerdings war sie auch immer politischen, ideologischen und gesellschaftlichen Interessen verhaftet. Dass sie "Ordnungen imperialer Wissenschaften" reproduzierte, gehörte dazu, weil sie im Spannungsfeld zweier Imperien wirkte und daher in einer Wechselwirkung zwischen Verein, Staat und Gesellschaft stand. Darüber hinaus war sie Ausgangspunkt zahlreicher Vernetzungen. Dass die Gesellschaft eine "Internalisierung westeuropäischer Zivilisierungsdiskurse" zeigte, ist dabei auch nicht verwunderlich, handelte es sich doch vor allem um eine akademische Europäisierungsmission, die gleichzeitig der Bewahrung kultureller Eigentümlichkeiten gewidmet war. Daher waren auch die methodischen Einflüsse der frontier science kontinental und das Raumbild "Ukraine" von der kulturellen und im Ersten Weltkrieg von der geopolitischen Zwischenlage geprägt, wie Rohde es auf den Punkt bringt. Schließlich wird in einem Nachwort noch darauf hingewiesen, dass auch für die gegenwärtige Ukraine die Wissenschaftsgeschichte als Ressource zur Konstruktion einer eigenständigen Identität genutzt werde.
Im Anhang findet man ein nützliches Verzeichnis von Periodika und Serien des NTŠ, einen Überblick über die staatlichen Subventionen zwischen 1894 und 1914 sowie eine umfangreiche Auflistung der Vereinsmitglieder. Kommissionsstatistiken und eine Präsentation von Indikatoren zur Gruppendynamik und dem Engagement für und gegen Statute sowie Strategien der Vereinsführung ergänzen diesen sehr nützlichen Informationsteil. Das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis beeindruckt durch die große Zahl der aufgesuchten Archive und Repositorien. Der Verfasser hat zudem zeitgenössische Periodika, Serien, Publikationen und Pamphlete aller Art in einem erheblichen Umfang herangezogen und aufgelistet. Sie verleihen der Studie quasi Qualität und Bedeutung eines Handbuches. Kleine Ungenauigkeiten und Rohdes Bemühen, für seine Analyse allen methodisch-epistemologischen Theoremen gerecht zu werden, mindern den Wert der Arbeit nicht. Auch Fachleute werden sie zu schätzen wissen.
Rudolf A. Mark