Sabine von Löwis (Hg.): Umstrittene Räume in der Ukraine. Politische Diskurse, literarische Repräsentationen und kartographische Visualisierungen (= Phantomgrenzen im östlichen Europa; Bd. 8), Göttingen: Wallstein 2019, 160 S., ISBN 978-3-8353-3345-1, EUR 24,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Annexion der Krim 2014 und der Separatismus der sogenannten Volksrepubliken Donec'k und Luhans'k haben nicht zuletzt zur Herausgabe des vorliegenden Sammelbandes beigetragen. Er umfasst sechs englische und deutsche Beiträge aus der Feder von deutschen und ukrainischen Autorinnen und Autoren, Osteuropafachleuten der Disziplinen Kulturwissenschaften, Slawistik, Geschichte und Politikwissenschaften. In den präsentierten Arbeiten geht es primär um den Versuch, die herkömmlichen "Karten im Kopf" über die Ukraine zu revidieren bzw. die mental maps als Visualisierung von Daten, die durch "unterschiedliche graphische Werkzeuge zur Sammlung und Aufbereitung" (10) gewonnen wurden, kenntlich zu machen. Darüber hinaus sind in Beiträgen die "Proliferation of Borders in Post-Soviet Space", "Imperiale[n] Phantomgrenzen der Ukraine" in der Literatur oder auch die "Odessa-Poetiken als Identitätsressource in Umbruchszeiten" Gegenstand ausführlicher Erörterung.
Die behandelten Themen sind nicht alle neu. Es liegen dazu bereits ausführlichere Arbeiten vor. Vor allem die Problematik der kartografischen Visualisierung von politischen Räumen, umstrittenen Grenzen, Regionalismen oder auch die Hypostasierung imaginärer Räume in Literatur und Poesie verspricht eigentlich keine neuen aufregenden Erkenntnisse. Dass Karten lediglich Repräsentationen von Wahrnehmungen sind, Momentaufnahmen oder politische Manifeste, darf man inzwischen als längst rezipierte Erkenntnis der einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen betrachten; das heißt, der kritische Umgang mit ihnen ist entscheidend. Wie in einem Beitrag Ulrich Schmids zur Verwendung von Choroplethen-Karten mehr als überzeugend dargelegt wird, ist der Gebrauch von herkömmlichen Karten, die natürlich kein perfektes, aber ein durchaus akzeptables Hilfsmittel sind, zur Beleuchtung entsprechender Analyseergebnisse durchaus sinnvoll. Für eine rasche, erste Orientierung etwa über politische, ethnische usw. Mehrheitsverhältnisse können sie nämlich höchst erhellend sein.
Dagegen scheint Steven Seegel eine geradezu obsessive Abneigung gegen jede Art von Karten zu haben. Diese lügen alle, führt er in seinem Beitrag aus, da sie Emanationen von Ideologie seien bzw. der Ideologie der Macht und Herrschaft entsprängen. Auch sein Diktum "Cartography makers, users and consumers traffic in recycled prejudices" (143) mag als cantus firmus eines modischen Diskurses originell erscheinen, wird der Sache aber nicht gerecht. Denn dies lässt sich im Prinzip für jede Form von sprachlicher Äußerung behaupten. Allerdings räumt Seegel an anderer Stelle durchaus ein, dass die Welt ein "finely coded place between the state's experts, the media and the public" darstelle und Karten wie andere Konstrukte und Texte auch in ihrem Kontext "übersetzt" werden müssten. Dieser Beitrag ist insgesamt betrachtet durchaus anregend. Er zeigt aber auch die zunehmenden selbstreferentiellen Beschränkungen des amerikanischen Wissenschaftsbetriebs. Deutsche oder französische Studien zum Thema werden schlichtweg ignoriert.
Mutatis mutandis gilt dies auch für einen Essay Tatiana Zhurzhenkos über neue Grenzen und Grenzregime im postsowjetischen Raum am Beispiel der Ukraine. Der Autorin gelingt es jedoch mit ihrem Beitrag, nicht nur die Logik der russischen Ukraine-Politik unter Vladimir Putin herauszuarbeiten, sondern sie auch im Kontext der vielfachen Veränderungen zu analysieren, die seit dem Zerfall der Sowjetunion Eliten und Regierung Russlands umtreiben. Sie benennt die nach dem Ende der monopolaren Weltordnung von Moskau als Herausforderungen wahrgenommenen neuen Konstellationen der internationalen Machtverhältnisse und definiert die Ziele der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Anders als in mancher neueren Studie behauptet, ist nach Einschätzung der Verfasserin nicht die territoriale Expansion in die Nachfolgestaaten der UdSSR das Hauptziel der Moskauer Außenpolitik, sondern die Instrumentalisierung von Fragmentierung und Regionalismus in den Nachbarstaaten, um so über deren Innen- und Außenpolitik Kontrolle zu gewinnen. Dafür liefern nicht zuletzt die aktuellen Entwicklungen im Kaukasus neue Beweise.
Wer einen substanziellen Einstieg in die Thematik sucht, wird mit dem vorliegenden Buch gut bedient.
Rudolf A. Mark