Michael Gehler / Maria Eleonora Guasconi / Francesco Pierini (eds.): Narrating Europe. Speeches on European Integration (1946-2020), Baden-Baden: NOMOS 2022, 653 S., ISBN 978-3-8487-8445-5, EUR 139,00
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Die Geschichte der europäischen Integration ist längst kein randständiges Forschungsfeld mehr, sondern ein dynamisches. Seit spätestens den 1990er Jahren haben sich die Zugangsformen pluralisiert, was sicherlich unmittelbar mit dem Bedeutungsgewinn der Europäischen Union (EU) für fast sämtliche Gesellschaftsbereiche in nahezu allen Staaten Europas zusammenhängt. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien aus historischer Perspektive zur europäischen Integration, die selbst für Experten kaum noch zu überschauen ist, da die Bandbreite der Themen von Kooperationsformen der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert über die Genese gemeinsamer europäischer Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zur Entstehung von europäischen Kommunikations- und Identitätsstrukturen reicht.
In der kursorisch umrissenen Forschungslandschaft stellt der von Michael Gehler, Maria Eleonora Guasconi und Francesco Pierini herausgegebene Sammelband ein Bindeglied dar zwischen der älteren Forschung, die mit Blick auf die Exekutive die Gründungsväter und das Handeln von Regierungen in den Vordergrund gestellt hat, und der neueren Forschung, die eher aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive nach der Bedeutung von Europaideen und Konzeptionen für die Entwicklung des Kontinents fragt. Das 2022 erschienene Buch vereinigt Aufsätze, die öffentlichkeitswirksame Reden oder publizistische Beiträge europäischer Spitzenpolitiker analysieren, die Einfluss auf den Diskurs über Europa in verschiedenen Staaten hatten. Das Buch ist ein Ergebnis des Jean-Monnet-Projekts "Reden über Europa", das zwischen 2019 und 2021 in Zusammenarbeit des Instituts für Politikwissenschaften der Universität Genua in Italien mit dem Institut für Geschichte der Universität Hildesheim interdisziplinär von Linguisten, Historikern und Politikwissenschaftlern durchgeführt wurde. In den einzelnen Aufsätzen des Sammelwerks liegt der Fokus immer auf einem Beitrag oder mehreren Beiträgen einer historischen Person zu Europadiskursen. Gemäß den Herausgebern wird dabei von der Prämisse ausgegangen, dass Sprache als mächtiges Mittel Menschen überzeugen und zur Kooperation anregen könne. Obwohl bereits vertiefende Analysen von Europareden vorliegen, darunter auch zu einigen, die für den vorliegenden Band ausgewählt wurden, bildet die systematische Auseinandersetzung mit öffentlichen Reden zur europäischen Integration und ihr Beitrag zur Konstruktion von pro- und antieuropäischen Diskursen immer noch ein Desiderat. Allein schon durch seinen voluminösen Umfang von über dreißig Beiträgen auf über 650 Seiten trägt das Werk dazu bei, diese Forschungslücke in mehrfacher Hinsicht ein Stück weit zu schließen.
Der Sammelband unterteilt den Untersuchungszeitraum chronologisch in fünf unterschiedlich gewichtete Kapitel und orientiert sich dabei weitgehend an der gängigen Periodisierung. Dabei werden die Kapitel umfangreicher, je mehr sich der Betrachtungszeitraum der Gegenwart nähert. Ein schmales erstes Kapitel behandelt die Jahre 1945/46, das zweite die Generation der Gründungsväter der 1950er Jahre, das dritte den Zeitraum von den 1960er bis zu den 1980er Jahren und das vierte Kapitel denjenigen von den 1980er bis zu den 1990er Jahren. Das abschließende fünfte Kapitel nimmt insgesamt fast 40 Prozent des Umfangs des gesamten Buches ein und konzentriert sich auf Reaktionen auf die multiplen Krisen, denen die EU bisher im 21. Jahrhundert ausgesetzt war. Es ist noch einmal in drei separat nebeneinanderstehende Sektionen unterteilt. Zunächst widmet es sich in sechs Beiträgen Reden italienischer Politiker (Berlusconi, Prodi, Ciampi, Padoa-Schioppa, Monti, Salvini), die unterschiedlich akzentuiert den zeitgenössischen italienischen Europadiskurs geprägt haben. Den nächsten Schwerpunkt bilden Reaktionen und Gegenreaktionen russischer Staatsmänner durch zwei Aufsätze zu Reden von Jelzin und Putin mit Europabezug. Schließlich werden unter der etwas sperrigen Überschrift "Impulses and Statements but Even More Groundbreaking Proposals by Top Representatives of the EU Member States" Analysen zu Reden von Joschka Fischer, Tony Blair, Mark Rutte und Emmanuel Macron zusammengefasst.
Die ausgewählten Reden umfassen überwiegend die bekannten großen Persönlichkeiten der Integrationsgeschichte und insbesondere Politiker aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien, wobei der Apenninstaat durch die erwähnte Extrasektion ein Übergewicht besitzt. Politiker aus Skandinavien fehlen dagegen. Osteuropa findet nur insofern Berücksichtigung, als dass Gorbatschow, Jelzin und Putin herangezogen werden, um den sowjetischen beziehungsweise russischen Blick auf den europäischen Integrationsprozess und damit verbundene Europanarrative zu untersuchen. In der Auswahl bilden sie auch die einzigen Politiker, die nicht unmittelbar im europäischen Integrationsprozess involviert waren. Mit Margaret Thatcher ist lediglich eine Frau vertreten.
Die einzelnen Aufsätze sind ähnlich aufgebaut. Breiter Raum wird der historischen Kontextualisierung der ausgewählten Reden in der Geschichte der europäischen Integration und der Charakterisierung des soziokulturellen Hintergrunds des Redners und seiner ideologischen Prägung eingeräumt. Die öffentliche Perzeption der Beiträge nimmt hingegen vergleichsweise wenig Platz ein. Die Analyse der Reden erfolgt den Herausgebern zufolge nach der Methode der Diskursanalyse, die sie mit Verweis auf Gillian Brown und George Yule und im Gegensatz zu engen Definitionen als "how addressers construct linguistic messages for addressees and how addressees work on linguistic messages in order to interpret them" [1] verstehen. Damit bestehen Spielräume, die in den einzelnen Aufsätzen durch verschiedene Analysemethoden genutzt werden.
Insgesamt bietet der vorliegende Sammelband vor allem auf zwei Ebenen gehaltvolle Erkenntnisse. Einerseits schließt er durch einige Aufsätze Lücken der zeitgenössischen Europaforschung, beispielsweise im Hinblick auf den italienischen Europadiskurs. Andererseits setzt er innovative Akzente, indem er anhand konkreter Fallbeispiele eine Fülle unterschiedlicher Analysemethoden im Bereich der Diskursanalyse aufzeigt. Wünschenswert wären mehr Querverweise zwischen den einzelnen Beiträgen, ein Namens- und Sachregister sowie in manchen Aufsätzen ein sorgfältigeres Lektorat gewesen. Dennoch ist das Buch allen zu empfehlen, die sich mit Europadiskursen auf der politischen Ebene beschäftigen. Es bleibt zu hoffen, dass die Herausgeber ihrer Ankündigung nachkommen und einen weiteren Band zu diesem Thema publizieren.
Anmerkung:
[1] Gillian Brown / Georg Yule: Discourse Analysis, Cambridge / New York / Melbourne 1983, 9; zit. nach Gehler / Guasconi / Pierini (eds.), Narrating Europe, 11.
Paul Lukas Hähnel