Michael Gehler / Ibolya Murber (Hgg.): Von der Volksrepublik zum Volksaufstand in Ungarn 1949-1957. Quellenedition zur Krisengeschichte einer kommunistischen Diktatur aus Sicht der Ballhausplatz-Diplomatie (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs; 62), Innsbruck: StudienVerlag 2023, 930 S., ISBN 978-3-7065-6273-7, EUR 49,20
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Der ungarische Volksaufstand vom Herbst 1956 markierte in der europäischen Nachkriegsgeschichte einen entscheidenden Wendepunkt nicht nur für die ungarische Binnenentwicklung, sondern auch für die europäischen Beziehungsgeschichten und die Blockpolitik. Eingebettet in ein mehrdimensionales und vielschichtiges Bedingungssystem, wurde dieses Aufbegehren bisher aus zahlreichen Perspektiven, mit mannigfaltigen Methoden und Herangehensweisen sowie mit unterschiedlichen Intentionen bearbeitet und mit einer Vielzahl an Publikationen erschlossen. Die vorliegende Quellenedition fügt diesem bunten Mosaik ein weiteres wichtiges, erhellendes und mit 930 Seiten durchaus gewichtiges Mosaiksteinchen hinzu. Dieses besteht aus Dokumenten aus der österreichischen diplomatischen Sichtweise nicht nur aus Budapest und Wien, sondern fallweise aus Auslandsvertretungen, die für einen bestimmten Handlungsstrang wichtig waren. Hierzu gehören unter anderem Belgrad, Brüssel, Bukarest, London, Moskau, New York, Paris, Rom, Warschau oder Washington, so dass die österreichischen Gesandtenberichte eine internationale Rezeptionsanalyse gestatten. Mit 157 Dokumenten ist natürlich Budapest am häufigsten vertreten, Wien folgt mit 90 Texteinheiten.
Dabei ist zu betonen, dass der Band keine Quellenedition nur zum Aufstand selbst ist. Vielmehr bietet er aus der Quellen- und Diplomatenperspektive ein manchmal auch subjektiv beeinflusstes Bild der Zeit von der Verhaftung Kardinal Mindszentys im Januar 1949 bis zum jugoslawischen Protest gegen die Hinrichtung Imre Nagys im Juli 1958. Damit ist die Zeit von der Etablierung des Kommunismus bis zum Wendepunkt und der Schwelle der Herausbildung des spezifisch ungarischen sozialistischen Systems, das später in den sogenannten Gulaschkommunismus mündete, abgedeckt und der Aufstand selbst kontextualisiert.
Die Edition bearbeitet und die Dokumente ausgewählt und zusammengetragen haben zwei ausgewiesene Kenner der österreichischen und ungarischen Zeitgeschichte. Dies gewährleistet eine breite Perspektive auf den Handlungszeitraum: Michael Gehler, Professor für Neuere und Neueste Deutsche und Europäische Geschichte an der Stiftung Universität Hildesheim und an der Andrássy Universität Budapest sowie Ibolya Murber, Historikerin und Dozentin im Lehrerbildungszentrum der Eötvös Loránd Universität (ELTE) und Stipendiatin an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Beide haben zahlreiche Publikationen zum vorliegenden Zeitraum sowie zur österreichischen und ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt.
In der mit 116 Seiten umfangreichen Einleitung erläutern sie zunächst die editorischen Grundsätze, aber noch viel wichtiger: Sie stellen die handelnden Akteure jener Jahre vor. Da die vorliegende Quellengattung immer auch eine persönliche Betrachtungsweise enthalten kann, ist es sehr hilfreich zu wissen, wer von wo einen Bericht, ein Dokument verfasst oder kommentiert oder mit Notizen versehen hat. Da es sich hierbei um Schriftstücke aus diplomatischer und ministerieller Perspektive handelt, sind nicht nur die Nachrichten selbst von Bedeutung, sondern auch deren Rezeption und zeitgenössische Einordnung. Diese spiegeln sich wider in Randnotizen, Kommentaren oder Anmerkungen der einzelnen Empfänger und erweitern das bekannte entwicklungsgeschichtliche Bild. Die ausführlich vorgestellten Hauptakteure sind der Bundeskanzler und Außenminister Leopold Figl, Staatsvertragskanzler Julius Raab sowie Außenminister Karl Gruber. Weniger detailliert präsentiert werden die politischen Vertreter, Gesandten und bevollmächtigten Minister in Budapest. Knapp aufgezählt werden die Gesandten, Botschafter und Missionschefs auf anderen Posten, die das Bild aus weiteren Blickrichtungen abrunden. Diese Verteilung spiegelt auch die Quellenauswahl und die Nähe zum Handlungsraum Ungarn wider.
In der Einleitung wird auch die zeitliche und inhaltliche Struktur aufgeschlüsselt, das heißt der Untersuchungszeitraum wird an dieser Stelle periodisiert, im Inhaltsverzeichnis hingegen nicht. Eine solche Strukturierung hätte den Nutzern jedoch eine zusätzliche Orientierungshilfe an die Hand gegeben, um die Nachkriegszeit in Ungarn vom Aufbau der kommunistischen Herrschaft mit Hilfe der Salamitaktik bis hin zu den "Ausblicksdokumenten" zu erfassen, die im Inhaltsverzeichnis als einzige einen eigenen Abschnitt bilden und sich mit den Hinrichtungen von Nagy und seinen Mitstreitern beschäftigen. So müssen die Nutzer die Periodisierung und inhaltliche Strukturierung anhand der Einleitung und den kurzen historisch-thematischen Abrissen nachvollziehen. Hier werden die sachlich nachvollziehbaren Zeiträume beginnend mit dem schrittweisen Aufbau der kommunistischen Diktatur strukturiert und mit Verweisen auf die einzelnen Dokumente versehen. Ganz durchgehalten wird die chronologische Ordnung aber nicht, einzelne Kapitel bilden thematische und keine chronologischen Einheiten, was den einzelnen Handlungssträngen und den verschiedenen Quellenperspektiven geschuldet sein dürfte.
Das ist auch das Problem einer derart umfassenden Quellensammlung, die sich über einen so langen und turbulenten Zeitraum erstreckt und zugleich verschiedene Blickwinkel einnehmen möchte. Die Quellenauswahl, die insbesondere als Buchprojekt stets umfangsmäßig und finanziell limitiert ist, droht die eigene Zielsetzung zu überdrehen und mehr lose Enden zu produzieren als rote Fäden auszulegen. Die beiden Herausgeber haben diese Problematik weitgehend einhegen können. Dennoch finden sich Dokumente unterschiedlicher Bedeutungstiefe für eine historiografische Aufarbeitung der Epoche: Die Lage der Hüttenindustrie in der Rede des stellvertretenden Ministerpräsidenten Gerő (Dok. 17) hat ein anderes Gewicht als "Die Befehlsausgabe an Kadar in Moskau" (Dok. 319). In letzterer spricht der außerordentliche Gesandte und bevollmächtigte Minister Österreichs in Budapest, Walther Peinsipp, die Lage Ungarns nach der Niederschlagung des Aufstands sehr deutlich an: "Das Moskauer Ergebnis bedeutet in seiner Summe nichts anderes, als dass Ungarn nunmehr in einem Ausmass zu einer Satrapie Moskaus geworden ist, wie es dies nicht einmal zu Rakosi's Zeiten war, administriert von Mittelmässigkeiten, denen jedes revolutionäre Format fehlt, die reine Nachbeter Moskaus und nur als Techniker des Terrors von Format sind - und - was wohl das Böseste ist - denen der Schrecken noch derart in den Gliedern sitzt, dass sie selbst froh sind, nur Satrapen spielen zu müssen und, wenn sie sich den Grossherrn gegenüber gut verhalten, dessen Schutz geniessen" (809). Nicht nur wegen solch treffender Analysen aus erster Hand ist der Quellenband eine unschätzbare Bereicherung für alle an der ungarischen Nachkriegszeit sowie der Revolution Interessierte. Er bietet für die zugrundeliegende Periode eine hilfreiche Auswahl an Quellenmaterial, die neue Perspektiven mit österreichischem Schwerpunkt erschließen und dabei das Ungarn jener Zeit auch in internationaler Einbettung besser verorten lassen.
Ralf Thomas Göllner