Jutta Eming / Marina Münkler / Falk Quenstedt et. al (Hgg.): Wunderkammern. Materialität, Narrativik und Institutionalisierung von Wissen (= Episteme in Bewegung. Beiträge einer transdisziplinären Wissensgeschichte; Bd. 29), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, 283 S., 4 Farb-, 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11923-8, EUR 68,00
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Bereits im 16. Jahrhundert zählten der "Ainkhürn" und der "Heilige Gral" der weltlichen Schatzkammer des Kunsthistorischen Museums Wien zu den unveräußerlichen und damit wertvollsten Besitztümern des Hauses Habsburg. [1] Die hohe Wertschätzung dieses Narwal-Stoßzahnes und der überdimensionierten Achatschale lag nicht nur in deren seltenen Materialität begründet, sondern in dem Narrativ, mit dem sie semantisch aufgeladen waren. Dieses Wechselverhältnis von Materialität und Narrativik in frühneuzeitlichen Sammlungen zu untersuchen, ist das erklärte Ziel des vorliegenden Bandes: "Nach Auffassung der Herausgeber konstituiert sich die Wunderkammer gerade über Beziehungen zwischen Texten, Sammlungs- und Ausstellungsformen. Wunderkammern erzählen, memorieren, aktualisieren oder verkörpern Geschichten, sie mobilisieren das Imaginäre ihrer Besucher und regen zu affektiver und kognitiver Beteiligung an; umgekehrt gehen sie auf Erzählungen zurück, stimulieren und antizipieren aber auch Erzählungen über jene Orte, in denen die Gegenstände des Staunens versammelt wurden." (2)
Die Tatsache, dass die Herausgeber durchgehend von "Wunderkammern" sprechen, verdeutlicht zugleich die Fokussierung des Bandes auf sogenannte "Mirabilia". Tatsächlich lässt sich an jenen Sammlungsobjekten, die gezielt Staunen generieren sollen, die Konstituierung von Narrativen und der Vorgang der Affekt- und Wissensproduktion im jeweiligen medialen Kontext - ob im Ausstellungsraum oder in der "erzählten" Sammlung - bestens studieren.
In seinem Beitrag mit dem sprechenden Titel "Schau auf mich und staune!" zeigt Stefan Laube, dass das Bestreben, staunenswerte Objekte zu sammeln, nicht nur darin begründet ist, materielles, visuelles und semantisches Kapital zusammenzutragen. Vielmehr liegen den frühneuzeitlichen Sammlungen appellative Kurznarrative zugrunde, die Staunen und Wissen generieren sollen (126). Dass Kunstkammer-Objekte eine epistemologische Funktion haben und das Staunen als impliziter Imperativ die Einrichtung von Kunst- und Wunderkammern bedingt, ist an sich nichts Neues. [2] Der Frage nach dem Zusammenspiel von Erzählung und Präsentation und nach der narrativen Vernetzung von Exponaten geht Laube aber an einzelnen Beispielen konsequent nach und erfasst so die Funktion der Kunstkammer als "piktographischer Komplex" und Gegenmodell zum Textmedium (139-140).
In seinem Beitrag zu "Text und Kunstkammer aus performativer Sicht" betont Peter McIsaac wiederum die zentrale Rolle von Besuchern bzw. Lesern bei der Produktion von Bedeutung, Wissen und Affekten und bei der Entfaltung von Narrativen in der jeweiligen medialen Umgebung (Text oder Ausstellung). Den Besuch der Sammlung interpretiert er als performativen Akt mit drei interagierenden Positionen, nämlich dem Kunstkämmerer bzw. Sammler, dem Besucher und dem Kunstkammerobjekt (147). Zugleich stellt der Autor fest, dass in der Frühen Neuzeit keine scharfe Unterscheidung zwischen physisch-räumlicher Zurschaustellung und textuellen Ansammlungen von wundersamen Materialien bestand (145). Umso wichtiger ist es, die Semantik des Wunderbaren nicht nur anhand von Sammlungsobjekten und -räumen, sondern auch von literarischen Zeugnissen zu untersuchen.
Dieser Aufgabe stellen sich Martin Sablotny, Tilo Renz und Falk Quenstedt. In ihren besonders aufschlussreichen Beiträgen nehmen sie Romane des 13. bis 16. Jahrhunderts - Herzog Ernst B, Straßburger Alexander, Apollonius von Tyrland und Fortunatus - unter die Lupe, in denen die Protagonisten im Umgang mit mirabilen Wesen und Objekten agieren. Bereits Lorraine Daston und Katharine Park haben auf das stark ansteigende Interesse für Mirabilia und Exotica an europäischen Höfen im 14. und 15. Jahrhundert hingewiesen, und auch auf die Indienstnahme weltlicher Sammlungen zur Machtlegitimierung in neugegründeten Fürstentümern. [3] Anhand der Straßburger Fassung des Alexanderromans lässt sich die Narrativierung sammlerischer und herrschaftslegitimatorischer Praxis untersuchen. Alexander der Große war im Spätmittelalter eine Identifikationsfigur für viele Herrscher, die sich als Sammler profilierten, u.a. für Philipp den Guten (22-23). Wenn im Straßburger Alexander erzählt wird, wie die fernöstliche Königin Candacis Alexander die Mirabilia in ihrem Palast vorführt, dient diese spezifische Narrativierung des Wunderbaren eindeutig der Legitimation politischer Ordnungen: Es geht um das Anerkennen und Aushandeln von Machthierarchien (27). Das gleiche gilt für Herzog Ernst, der im Laufe seiner Reisen Wundervölker wie Sammlungsobjekte um sich schart. Diese mirabile Entourage, die Ernst geschickt zu seiner Rehabilitierung bei Kaiser Otto einsetzt, gilt als Ausweis seiner Fähigkeit als Gefolgsherr (49-51). Zugleich kommt in dem Verhältnis des Herzogs zum Kaiser eine Form zwischenhöfischer Konkurrenz zum Ausdruck, die für die Entstehung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Sammlungen ausschlaggebend war. Auch das Motiv des Auserwähltseins, das in spätmittelalterlichen Romanen mit der Begegnung oder dem Besitz von Mirabilia einhergeht, ist Teil der Inszenierungspraktiken und Legitimationsstrategien, die für die Konstituierung fürstlicher Sammlungen an der Schwelle zur Frühen Neuzeit entscheidend waren (39).
An diesen literaturwissenschaftlichen Beiträgen wird deutlich, dass die Untersuchung fürstlicher Sammlungen in der Frühen Neuzeit nicht nur einer interdisziplinären Annäherung bedarf, sondern auch einer zeitlichen und geographischen Erweiterung des Forschungsfelds. Denn, wie Quenstedt anhand des 1509 in Augsburg gedruckten Fortunatus-Romans demonstriert, ist die zwischenhöfische Geschenkkultur, die eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung frühneuzeitlicher Sammlungen spielte, keineswegs ein rein europäisches Phänomen. Vielmehr gehört der Austausch von Mirabilien zu den kulturübergreifenden Kommunikationsstrategien repräsentativen Charakters, die bei europäischen ebenso wie bei orientalischen, asiatischen und afrikanischen Elitenkulturen anzutreffen war und schon lange vor dem 16. Jahrhundert die Zusammensetzung, Ordnung und Deutung höfischer Sammlungen bestimmten (68f, 74ff).
Zudem widmet sich Quenstedt dem Wechselverhältnis von Narrativik und Ausstellungspraxis, indem er die Erzähltraditionen und Präsentationsgeschichte eines typischen Kunstkammer-Objektes studiert, nämlich der Greifenklaue. Dabei beweist er einmal mehr, dass das Wertvolle an frühneuzeitlichen Sammlungsexponaten weniger das materielle Substrat ist als die Geschichten, die aus ihnen evoziert werden können (90ff). Es geht nicht um die Authentizität des Objekts selbst, sondern um die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte: "Erst das Zusammenspiel aus Erzählung und Präsentation macht das Narwal-Horn zum Einhorn und das Büffelhorn zur Greifenklaue. Die Staunenswirkung steht und fällt mit der Geltung des Erzählten (96)."
Auf die Plausibilität des Narrativs und seine Auswirkung auf museale Ausstellungspraktiken geht ebenfalls Viola König ein, die einen Schirmhut der Aleuten aus der Kunstkammer von Peter dem Großen und zwei Totempfähle aus dem Ethnologischen Museum Berlin hinsichtlich ihrer Provenienz und der damit einhergehenden Narrative untersucht.
Weiterhin werden im vorgestellten Band anhand von Wunderzeichenbüchern (Caroline Emmelius), Sammlungsführern (Sebastian Fitzner), satirischen Schriften (Volkhard Wels) und sammlungstheoretischen Traktaten (Eva Dolzel) die Analogien zwischen frühneuzeitlichen Sammlungen und literarischen Texten hinsichtlich affiner Ordnungs- und Erzählstrukturen herausgearbeitet.
Insgesamt liefert der Band eine Fülle von Materialien und zahlreiche Denkansätze zur Analyse von Narrativik und Sammlungen in der Frühen Neuzeit und ist somit ein Meilenstein für die weitere Forschung auf diesem Feld.
Anmerkungen:
[1] Sabine Haag: Die Geschichte der Wiener Kunstkammer, in: Götz Adriani (Hg.): Die Künstler der Kaiser. Von Dürer bis Tizian, von Rubens bis Velázquez. Baden-Baden 2009, 201-205.
[2] Dazu Lorraine Daston / Katharine Park: Wonders and the Order of Nature 1150-1750. New York 1998, 215-253.
[3] Ebd., 100-103.
Virginie Spenlé