Klaus-Dietmar Henke: Adenauers Watergate. Die Geheimoperation des BND gegen die SPD-Spitze, Berlin: Ch. Links Verlag 2023, 287 S., ISBN 978-3-96289-199-2, EUR 25,00
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Am 23. Mai 1962 landete ein anderthalbseitiger maschinenschriftlicher Vermerk auf dem Schreibtisch des Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Berichtet wurde über eine Sitzung des SPD-Präsidiums, die zwei Tage zuvor stattgefunden hatte. Dabei war unter anderem auch die Broschüre "Katholik und Godesberger Programm" besprochen worden - ein Abschnitt, der den Kanzler ausweislich seiner Markierungen besonders interessierte. Die Beziehungen der Sozialdemokratie zur katholischen Kirche, so konnte er hier lesen, entwickelten sich positiv; nur die Bischöfe von Münster und Fulda sowie der Erzbischof von Köln "seien nach wie vor unbedingte Gegner der SPD". Gewürdigt wurden auch die Kontakte zu den Ordensgemeinschaften, besonders den Jesuiten und Benediktinern, die positiv in die "meinungsbildenden" publizistischen Kreise hineinwirkten. Adenauer, seit dreißig Jahren dem Benediktinerkloster Maria Laach eng verbunden, hat diesen Absatz mit grünem Buntstift angekreuzt. [1]
Obwohl es den langjährigen CDU-Vorsitzenden kaum kalt lassen konnte, dass die Genossen nach Godesberg jetzt auch noch mit dem Klerus ihren Frieden zu schließen drohten, erscheint der Inhalt des Vermerks politisch nicht sonderlich brisant. Klaus-Dietmar Henke widmet ihm dennoch eine "leicht überproportionale Aufmerksamkeit" (248), da er die Überlieferung von ca. 500 "Vertraulichen Vermerken" beschließt, mit denen die Organisation Gehlen bzw. (ab 1956) der Bundesnachrichtendienst das Kanzleramt mit Interna aus den SPD-Spitzengremien versorgt hatte. Die Informationsflut deckte praktisch alles ab, was in der Parteiführung diskutiert wurde: Wahlkampfstrategien, persönliche Rivalitäten, programmatische Flügelkämpfe. Nun endete die zehnjährige "Geheimoperation" im Mai 1962 unvermittelt mit den Jesuiten und den Benediktinern.
Abgebrochen wurde sie wohl, weil eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung in den Bereich des Möglichen gerückt war und es daher angezeigt schien, die Spuren zu verwischen. Reinhard Gehlen selbst hatte die Aktion im Jahr 1953 maßgeblich eingefädelt, als sich mit Siegfried Ortloff, Sekretär beim SPD-Parteivorstand und Protokollführer der Vorstandssitzungen, eine Quelle auftat, die reichhaltigen Ertrag versprach. Angeworben wurde Ortloff von Siegfried Ziegler, hauptamtlicher Mitarbeiter des Nachrichtendienstes und gleichfalls SPD-Mitglied, der anfangs an Gehlen direkt berichtete (später wurde das Verfahren formalisiert). In Form schriftlicher Vermerke, ohne Unterschrift und nur mit einer schlichten Betreffzeile versehen, gelangten die Informationen dann an Staatssekretär Hans Globke im Kanzleramt, der sie - sofern er es für geboten hielt - an den Regierungschef weiterleitete.
Gehlen und Globke, die Schlüsselfiguren der Parteienspionage auf höchster Ebene, werden von Henke als "'staatstragende Kräfte' autoritärer-konservativer Observanz" (15) beschrieben, deren antikommunistisches Weltbild eine rigorose Zweck-heiligt-die-Mittel-Auffassung einschloss, zumal ihnen "[k]eine demokratische Kraft" für eine "Konsolidierung der Bundesrepublik [...] gefährlicher" erschien "als die SPD" (17). Diese Ansicht teilte zweifelsohne auch Adenauer, der eine ausgeprägte Angst vor dem Kommunismus hegte und den außenpolitischen Kurs der Sozialdemokratie für einen neutralistischen Irrweg mit potentiell fatalen Konsequenzen hielt. Während der 1950er Jahre wurde die CDU nicht müde, sie als tief im Marxismus verwurzelte Partei und Steigbügelhalter Moskaus anzugreifen. Der Godesberger Modernisierungsprozess stellte den Bundeskanzler dann vor ein politisches Problem, weil er sich nicht in das tradierte Bild der SPD fügte und ihn seiner erfolgreichen Polarisierungsstrategie beraubte.
Die politische Kultur des Kalten Krieges, aus der die Parteienspionage erwuchs, zeichnet Henke markant und präzise nach. Es fehlt freilich ein vertiefender biographischer Blick auf Adenauer, um seine Haltung zur Demokratie und den machtpolitischen Umgang mit den staatlichen Institutionen historisch einzuordnen. Politisch sozialisiert im Kaiserreich, hatte sich der Kölner Oberbürgermeister nach 1918/19 auf den Boden der Weimarer Reichsverfassung gestellt und das parlamentarische System offen bejaht. Gleichzeitig pflegte er jedoch schon damals einen straffen Führungsstil, der auf Kontrolle der Verwaltung und Kenntnis tagespolitischer Details beruhte. Während er an diese Praxis nach 1945 nahtlos anknüpfte, hatte sich sein Menschenbild im Zuge der totalitären Erfahrung des Nationalsozialismus nachhaltig verdüstert. Der alte Bundeskanzler wollte die Deutschen, denen er eine kollektive emotionale Labilität attestierte, unwiderruflich an den demokratischen Staat binden. Authentische Sorgen um die Stabilität der politischen Ordnung paarten sich mit machiavellistischen Strategien des Machterhalts. Ein harter, oft zynischer Umgang mit Weggefährten und Gegenspielern war ihm ebenso geläufig wie weitgehende Flexibilität bei der Wahl der Mittel, um seine Ziele zu erreichen.
Aus solchen Dispositionen heraus entwickelte sich die Parteienbespitzelung in den Formen eines bürokratisch routinierten Machtmissbrauchs. Henke zeigt, wie sich der Gehlen-Dienst zur Inlandsspionage gleichsam selbst ermächtigte und eine vorteilhafte Position im Kanzleramt sicherte, indem er das Informationsbedürfnis der Hausleitung befriedigte. Adenauer wurde aus dem Apparat heraus entgegengearbeitet; er hat das Aushorchen der SPD nicht angeordnet, es im Tagesgeschäft aber toleriert und die Ergebnisse goutiert. Im CDU-Bundesvorstand ließ er am 19. Januar 1954 die Bemerkung fallen, man müsse "all[e] möglichen krummen Wege" beschreiten, um aus der SPD-Führung "etwas zu erfahren. [...] Ich gehe diese krummen Wege nicht. Ich höre nachher, was bei den krummen Wegen herausgekommen ist. Das ist doch die Hauptsache!" [2]
Henkes Buch beruht auf seinem etwa 2000 Seiten starken Kommissionsbericht über die Inlandsspionage der Organisation Gehlen bzw. des Bundesnachrichtendienstes in der Ära Adenauer. [3] Eine Kurzausgabe war zweifelsfrei geboten, um die Ergebnisse einem breiteren Publikum vorzustellen. Die gewählte Erzählstruktur erweist sich allerdings nur bedingt als lesefreundlich. Sie besteht, ebenso wie im Kommissionsbericht, aus einer detaillierten Wiedergabe der Vermerke in der Reihenfolge ihres Eingangs (durch längere Direktzitate oder in Paraphrase). Dort, wo sich im zeitlichen Verlauf politische Schwerpunkte bilden, in den Wahlkampfphasen oder bei den Diskussionen um das Godesberger Programm, funktioniert das einigermaßen gut. Andernorts fällt die Darstellung eher kleinteilig und sprunghaft aus.
Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, die Dokumente in repräsentativer Auswahl thematisch zu bündeln und den hierdurch gewonnenen Raum für eine kontextualisierende Erläuterung der Informationen zu nutzen. Interessant erscheint ferner die Frage nach ihrem Exklusivcharakter, die nicht einheitlich beantwortet werden kann: Manche Meldungen boten einen sprichwörtlichen Schlüssellochblick in das Führungszentrum der SPD, andere waren eher trivial oder kursierten auch in journalistischen Kreisen. [4] Ebenso schwierig zu ermessen ist die politische Materialverwertung im Bundeskanzleramt: Sicherlich dienten die Vermerke dem Aufbau eines strategischen Herrschaftswissens, aber waren sie auch unmittelbar handlungsrelevant? Ein Blick auf die Koalitionspolitik als genuiner Bestandteil der Regierungspolitik verspricht hier bessere Ergebnisse als das Verhältnis zur Opposition. Die Ausforschung der FDP, im Kommissionsbericht instruktiv erforscht, wird aber weitgehend ausgeklammert. [5]
Henke stellt diese Fragen nicht, da er sie für die historische Bewertung als "zweitrangig" (262) erachtet. Ausschlaggebend ist aus seiner Sicht allein das Verfahren, also die Instrumentalisierung des Auslandsnachrichtendienstes zum Zwecke der Inlandsspionage. Wenn man die Parteienbespitzelung als rechtswidrige Grenzüberschreitung und machtmissbräuchliche Praxis begreift, mag das einleuchten. Wird sie aber als "größtes Demokratieverbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik" (9) etikettiert, wie Henke es tut, reicht das prozedurale Argument doch nicht aus. In diesem Falle sollte, um den "Angriff auf die Demokratie" (262) auch materiell zu erfassen, die Wirkungsgeschichte im Blick behalten werden.
Weder ethisch noch juristisch genauer qualifiziert, ist die Vokabel "Demokratieverbrechen" nicht zuletzt deshalb fehl am Platze, weil sie mit problematischen Assoziationen arbeitet und pauschal insinuiert, Adenauer habe eine verbrecherische Politik betrieben. Obwohl Henke abschließend vermerkt, die Geschichte seiner Regierungszeit müsse nicht umgeschrieben werden (wenn nicht im Lichte eines säkularen "Demokratieverbrechens", wann dann?), bleibt der Eindruck haften, vermutlich auch nicht unbeabsichtigt. Das ist bedauerlich, denn es lenkt ab von dem reichen Ertrag, den Henkes jahrelange Forschungen in parteien- und politikgeschichtlicher Hinsicht erbracht haben. Hierauf kann bei nüchterner Betrachtungsweise gewinnbringend aufgebaut werden.
Anmerkungen:
[1] Der Vermerk ist überliefert in: Archiv der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, I/12.24, Bl. 11f.
[2] Adenauer: "Wir haben wirklich etwas geschaffen. " Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953-1957, bearbeitet von Günter Buchstab, Düsseldorf 1990, Nr. 2, 68-137, hier 75 (die Stelle bei Henke auf 40f.).
[3] Vgl. Klaus-Dietmar Henke: Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage der Organisation Gehlen 1946-1953, Berlin 2018 (zur "Beobachtung von FDP und SPD", 665-772); ders., Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage des BND in der Ära Adenauer, Berlin 2022 (zur "Ausspähung der FDP", 309-371, zur "Ausforschung der SPD-Spitze", 545-826).
[4] Ein gut informierter Journalist wie Robert Strobel etwa erhielt ebenfalls Informationen über SPD-Vorstandssitzungen und sprach mit Funktionären und Politikern, die sich sehr offenherzig äußerten. Vgl. (in stichprobenartiger Auswahl) die "Informationsberichte" Strobels vom 11. und 22.9.53 über die Tagung der SPD-Führungsgremien nach der zweiten Bundestagswahl, Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, ED 329/5, Bl. 281f.; 293f; Informationsbericht vom 9.4.1957, ebd., ED 329/9, Bl. 113 (zum Werben der SPD um die FDP im Vorfeld der Bundestagswahl 1957; bei Henke auf Seite 94); Informationsbericht vom 20.9.57, ebd., Bl. 215 (Vorstandssitzung der SPD nach der Niederlage bei der Bundestagswahl, bei Henke auf Seite 123).
[5] Vgl. den Abdruck relevanter FDP-Vermerke (ohne Hinweis auf den nachrichtendienstlichen Hintergrund), in: Rudolf Morsey / Hans-Peter Schwarz (Hgg.): Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe. Adenauer und die FDP, bearbeitet von Holger Löttel, Paderborn 2013.
Holger Löttel