Thomas Mergel: Köln im Kaiserreich 1871-1918 (= Bd. 10), Köln: Greven-Verlag 2018, XVI + 567 S., ISBN 978-3-7743-0454-3, EUR 60,00
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Im Januar 1951 erhielt Bundeskanzler Konrad Adenauer zum 75. Geburtstag ein Album des rheinischen Fotografen August Sander geschenkt, betitelt als "Köln wie es war". [1] Die hierin versammelten Bilder, aufgenommen in den 1920er und 1930er Jahren, führen den Betrachter durch die Kulisse der historischen Stadt - den gotischen Dom, das mittelalterliche Rathaus, die Türme der romanischen Kirchen. Die Bauten sind monumental in Szene gesetzt, wie steinerne Zeugen der Vergangenheit, neben denen die wenigen sichtbaren Menschen klein und verschwommen wirken. Mit diesen Fotografien wurde eine spezielle Optik entworfen, die den sehnsüchtigen Blick auf das "alte Köln" bis heute prägt.
Tatsächlich ist in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs aber weniger das sprichwörtliche "alte Köln" zugrunde gegangen, sondern eine moderne Metropole, die sich seit der Gründung des Deutschen Reichs rapide verändert hatte. Einem Reisenden, der die Stadt vor 1880 und dann wieder um die Jahrhundertwende aufsuchte, dürfte die Orientierung wohl schwergefallen sein. Von diesem Prozess beschleunigten Wandels erzählt Thomas Mergel in seinem Buch "Köln im Kaiserreich 1871-1918".
Mergels Ansatz ist der einer vergleichenden Stadtgeschichte, der die Kölner Entwicklung in den säkularen Trend der "Urbanisierungsepoche" (203) einordnet, zugleich aber auch ihre lokalen Besonderheiten akzentuiert (7). Die Expansion - verstanden als urbane Transformation in geographischer, politischer und ökonomischer Hinsicht - wurde durch die preußischen Militärbehörden lange behindert. Erst mit der Fertigstellung des äußeren Festungswalls 1881 konnte die alte Stadtmauer aus der Stauferzeit aufgekauft und sukzessive abgerissen werden. Zwei Jahre später wurden die vorgelagerten Freiflächen eingemeindet, die dortigen Grundstücke versteigert und großzügig bebaut (137-142). Von da an griff die Stadt über sich selbst hinaus: 1888 vervielfachte sie ihr Gebiet mit einem Schlag durch die Eingemeindung der linksrheinischen Vorstädte sowie der Ortschaften Deutz und Poll am rechten Flussufer (142-147). Dort expandierte Köln in der Folge auch weiter, noch kurz vor Kriegsausbruch 1914 gelang die Übernahme der florierenden Industriestandorte Mülheim und Merheim (147-149). Die Stadt war nun nicht mehr dieselbe wie zuvor. Ihre Fläche hatte sich von 405 ha im Jahr 1880 auf 20.000 ha vergrößert, die Einwohnerzahl war von 125.000 auf 635.000 gestiegen (197). Erst jetzt spielte Köln in der gleichen Liga wie die anderen deutschen Großstädte.
Die geographische Expansion hatte eine tiefgreifende Umstrukturierung des städtischen Raums zur Folge. War die mauerbefestigte Stadt noch überschaubar und fußläufig gewesen, so mussten die Distanzen zwischen Alt- und Neu-Köln nun durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, der Pferdebahn und alsbald auch der Elektrischen Straßenbahn, überbrückt werden (177-183). Es bildete sich eine städtische "Agglomeration" mit "weichen Grenzen" (212) heraus, die bürgerliche Wohngebiete ebenso umfasste wie proletarische Arbeiterviertel und dörflich geprägte Gemeinden. Die Aufgabe, hieraus eine integrierte Großstadt zu formen, machte ein "neues Denken über kommunale Pflichten" (166) erforderlich. Noch in der Reichsgründungzeit hatte die Verwaltung "ein traditionelles Gesicht" (32) gezeigt, sie war administrativ kaum ausdifferenziert, das Personal schlecht bezahlt und gering motiviert. Städtische Politik wurde nur dort tätig, wo es zwingend notwendig erschien (35). Die Hinwendung zu einem aktiven City-Management und urbaner Planung erfolgte erst in den 1880er Jahren. Unter der Ägide des tatkräftigen Oberbürgermeisters Wilhelm Becker wurde die Verwaltung aufgestockt und die Beigeordnetenstellen mit einem festen Ressortzuschnitt versehen. Eine solche Professionalisierung war auch deshalb angezeigt, weil die Stadt im Zeitalter des Munizipalsozialismus (150-152) immer mehr zum ökonomischen Akteur mutierte: Wasser, Gas und Elektrizität wurden kommunalisiert, schließlich auch die Straßenbahn. Die Entfestigung der Stadt hatte zur Entfesselung ihrer Potentiale geführt, das moderne Köln Gestalt angenommen.
Veränderungen haben, gerade wenn sie sich in vergleichsweise kurzer Zeit abspielen, einen emotionalen Preis. Mit feinem Gespür für die Ambivalenzen der Modernisierung zeichnet Mergel nach, wie sich die Kölner, kaum dass sie die alte Mauer niedergerissen und die Stadt nach außen geöffnet hatten, deren Geschichte aneigneten (358-374). Das Stadtmuseum öffnete 1888 seine Pforten sinnigerweise in der Hahnentorburg, einem der wenigen Durchgänge, welche die Mauerniederlegung überdauert hatten. Der Heimatverein Alt-Köln von 1902 widmete sich der Pflege einer kölnisch-kulturellen Identität, die als bedroht empfunden wurde. Die Großstadtwerdung Kölns, so heißt es in einer der Publikationen, habe den "Niedergang des Kölnertums" herbeigeführt (358). Was damit gemeint war, illustriert Mergel am Beispiel der Altstadt, die in der Expansionsphase selbst einen Erneuerungsprozess durchlief (202-209). Die mittelalterliche Winkelbebauung und die engen Gassen verschwanden, Schneisen wurden geschlagen. Zugleich entvölkerte sich das Zentrum rund um den Dom, wo sich Einzelhandels- und Gastronomiebetriebe ansiedelten. So verwandelte sich die Altstadt in das, was sie im Grunde heute noch ist, nämlich "ein volles, wuseliges Stadtzentrum, das seine traditionelle Form weitgehend abgestreift" hat (209). Der Verlust des alten Wohnquartiers wurde rasch beklagt, obwohl dort katastrophale hygienische Zustände geherrscht und viele Häuser schlicht abbruchreif gewesen waren: "Das war das alte Köln, dessen Verschwinden später von vielen bedauert wurde", kommentiert Mergel leicht süffisant (265). Die Verklärung der "guten alten Zeit" gehört freilich zum Wesen kölscher Erinnerungskultur. Wie heißt es doch in einem bekannten Karnevalsschlager: "[E]ines dat es jeweß / Dat dä Ärjer vun hück, un dat jeiht flöck / Die jode ahle Zick vun murje es". [2]
Der wohl berühmteste Kölner des 20. Jahrhunderts, Konrad Adenauer, dessen Wirken schon in die "Randregionen" (397) von Mergels Zeitraum fällt, betritt die Bühne erst spät (397f.), als Krisenmanager während des Ersten Weltkriegs (455ff.) und der Novemberrevolution 1918 (486-492). Gleichwohl lässt Mergels Darstellung schon Ausblicke auf die Stadtpolitik des Oberbürgermeisters in der Weimarer Republik zu, die in vielfacher Hinsicht mit dem Modernisierungsschub der Kaiserzeit verbunden war. So wurden beispielsweise die Straßenzüge in den 1880er Jahren aufgelockert bebaut und mit Parkanlagen ausgestattet, um "Orte der Erholung" (190) im Häusermeer der Großstadt zu schaffen. Die Anlage von Volksgarten 1890 und Stadtwald 1896 spiegelte dann eine städtebauliche Neuorientierung wider, die auf das zunehmend drängende Problem der Bauverdichtung reagierte. Insofern brachte Adenauers Grüngürtelpolitik ab 1920 einen spezifischen Trend Kölner Stadtplanung zur Vollendung (192). Bekanntermaßen betrieb der Oberbürgermeister diese und andere Infrastrukturprojekte auch als Instrument der lokalen Wirtschaftsförderung. Mit Interesse liest man daher, dass schon die Bautätigkeit im Zuge der Stadterweiterung ab 1880 als großangelegtes Konjunkturprogramm funktionierte, um der Stadt einen Ausweg aus der Gründungskrise des Deutschen Reichs zu gewähren (108, 111). Als Bauherrin zur Verbesserung der Notlagen auf dem Wohnungsmarkt trat die Stadt bis 1918 allerdings kaum hervor, nicht zuletzt weil die Interessen der Immobilienbesitzer in der Stadtverordnetenversammlung dem entgegenstanden: "Erst in den 1920er Jahren sollte auch in Köln der soziale Wohnungsbau entscheidend vorankommen." (269) Wenn der Stadtgestalter Adenauer die urbane Modernisierung der Kaiserzeit also konsequent fortführte, setzte er bei ihrer Weiterentwicklung unter den gewandelten Verhältnissen der Weimarer Republik doch auch eigene Akzente. Diesbezüglich darf man gespannt sein, wie Mergels Deutung mit derjenigen Christoph Nonns im Folgeband der Stadtgeschichte über die Weimarer Republik ineinandergreifen wird.
Der Leser hält hier ein im doppelten Wortsinn wunderbares Buch in Händen - an erster Stelle wegen des Lektüregenusses, den es verspricht und einlöst, aber auch in Anbetracht seiner prachtvollen äußeren Gestaltung. 169 Abbildungen, darunter vor allem die Fotografien, sorgen für eine plastische und ungeschminkte Visualisierung des Lebens in der großen Stadt (z. B. Abb. 83: "Kinder in der Kühgasse, um 1890"; Abb. 86: "Abbruchreife Häuser, Auf dem Brand, um 1900"; Abb. 101: "Prostituierte in der Holzgasse, 1907"). Beigefügt ist ferner ein Faltplan von "Köln und Umgebung" aus "Greven's Adreßbuch" von 1909. Damit reiht sich Mergels "Köln im Kaiserreich" nahtlos ein in die übrigen Publikationen der Reihe "Geschichte der Stadt Köln", die im Auftrag der Historischen Gesellschaft Köln e. V. beim Greven Verlag publiziert wird. Inzwischen ist die Mehrzahl der Bände erschienen. [3] Nach dem Abschluss dieses Mammut-Unternehmens wird eine Stadtgeschichte von der Römerzeit bis in die Gegenwart vorliegen, die ihresgleichen sucht.
Anmerkungen:
[1] Das von Sander persönlich gewidmete Album ist überliefert in: Archiv der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus (StBKAH), Fotoalbum 29.
[2] Höhner, "Hey Kölle du bes e Jeföhl" (1992).
[3] Für eine Übersicht vgl. https://www.greven-verlag.de/themenwelt-geschichte-der-stadt-koeln.aspx
Holger Löttel