Hanspeter Marti / Karin Marti-Weissenbach (Hgg.): Traditionsbewusstsein und Aufbruch. Zu den Anfängen der Universität Halle, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 157 S., 1 Farb-, 9 s/w-Abb., 1 Tbl., ISBN 978-3-412-51638-3, EUR 40,00
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Marianne Taatz-Jacobi / Andreas Pečar (Hgg.): Die Universität Halle und der Berliner Hof (1691-1740). Eine höfisch-akademische Beziehungsgeschichte (= Wissenschaftskulturen. Reihe III: Pallas Athene; Bd. 55), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 351 S., ISBN 978-3-515-12910-7, EUR 68,00
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Hanspeter Marti / Karin Marti-Weissenbach (Hgg.): Nürnbergs Hochschule in Altdorf. Beiträge zur frühneuzeitlichen Wissenschafts- und Bildungsgeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Andreas Pečar: Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534-1642), München: Oldenbourg 2011
Michael Kaiser / Andreas Pečar (Hgg.): Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit, Berlin: Duncker & Humblot 2003
Auch die Universitätsgeschichtsforschung kennt Meistererzählungen. Eine der wirkmächtigsten stammt aus der Feder der borussisch-kulturprotestantischen Schule. Diese konstatiert eine teleologische Entwicklung des Universitätswesens: von den glanzvollen Ursprüngen der abendländischen Universitäten in der Stauferzeit über deren Niedergang im späten Mittelalter, deren Erneuerung einerseits durch die Reformation (Wittenberg), andererseits durch die Aufklärung bis hin zur vollendeten Berliner Universität - freilich bei gleichzeitiger genereller Abwertung aller anderen, vor allem der katholischen Hochschulen. Die Gründungen der Universitäten Halle (1694) und Göttingen (1737) nehmen in diesem Narrativ eine besondere Stellung ein - die Fridericiana als Ergebnis der fruchtbaren Verbindung von "Preußentum und Pietismus"[1], die Georgia Augusta durch die konsequent säkulare Entfaltung der Wissenschaften unter dem Eindruck von Rationalität, Utilitarismus und Empirie. Der in der Forschung fest etablierte Begriff der "aufgeklärten Reformuniversität", der beiden Universitäten seit langem, etwa von Notker Hammerstein und seinen Schülern, beigelegt wurde, verweist auf den 'modernen', epochemachenden, gewissermaßen den 'Leuchtturm'-Charakter beider Institutionen, die über das Normalmaß der deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts hinausgegangen seien und sogleich nach ihrer Gründung eine Spitzenstellung eingenommen hätten, was in erster Linie mit der personellen (Halle) und zusätzlich mit der finanziellen Ausstattung (Göttingen) erklärt wurde. Von Halle und Göttingen seien wissenschaftliche, namentlich aufgeklärte Innovationsimpulse ausgegangen, die eine Ausstrahlung auf das übrige (deutsche) Universitätswesen gehabt hätten - immerhin bestehend aus rund drei Dutzend Anstalten im Reich, die strukturell als reformunfähig beschrieben wurden.
Wahrscheinlich gehört auch dies zum Narrativ von Aufstieg und Niedergang, dass bereits gut drei Jahrzehnte nach ihrer Gründung die Blütezeit der Fridericiana auch schon zu Ende gewesen sei - es fehlen fortan die großen Namen aus der Entstehungszeit: Christian Thomasius, Christian Wolff, August Hermann Francke und andere. Diese erste Phase der Universität Halle steht im Zentrum der vorliegenden, sorgfältig aus den Quellen des Archivs der Franckeschen Stiftungen in Halle, des Geheimen Staatsarchivs Berlin-Dahlem und des Universitätsarchivs Halle gearbeiteten Monographie von Marianne Taatz-Jacobi und Andreas Pečar. Sie schließt im Rahmen des interdisziplinären Forschungsverbandes "Aufklärung - Religion - Wissen" an aktuelle Forschungen zu Halle als "Innovationsuniversität" [2] und zum Typus deutscher "Aufklärungsuniversitäten" [3] an.
Grundlage der Ausführungen von Taatz-Jacobi und Pečar ist die Frage nach der Steuerung von Universitätspolitik, mithin konkret nach Impulsgebern und strukturellen Rahmenbedingungen von Innovation. Ausgehend von Überlegungen, die der sozial- und politikwissenschaftlichen Governance-Forschung entnommen sind, kommen die beiden Autoren zu einem bemerkenswert eindeutigen Ergebnis: Die Entstehung (29-41) und institutionelle Einrichtung der Fridericiana sowie die Zusammenstellung des Lehrkörpers durch eine gezielte Berufungspolitik (41-44) war keineswegs 'von oben' intendiert, sondern Ergebnis von Einzelinitiativen verschiedener Akteure ohne einen konkreten 'Masterplan'. Der in der älteren Forschung gewissermaßen als 'Mastermind' behauptete König Friedrich Wilhelm I. war dabei nur einer dieser Steuerungsakteure - auch in der vermeintlichen Krisenzeit der Universität Halle in den 1730er Jahren (65-91). Der König wurde vor allem dann in der Universitätspolitik aktiv, wenn es um spezifische Belange des brandenburg-preußischen Gesamtstaates ging, etwa die Notwendigkeit, Studenten gegen ihr verbrieftes Recht dennoch in die Armee zu zwingen (235-256). Zwar lag das Berufungsrecht für neue Professoren selbstverständlich beim König, wie die Autoren betonen [4], aber ansonsten hingen Erfolg oder Misserfolg von Berufungen oder Initiativbewerbungen an spezifischen personellen Konstellationen, nicht an wissenschaftlich-gelehrter Exzellenz und Expertise, sondern mithin letztlich an der Bedeutung der Fürsprecher bestimmter Akteure als Patrone für die Bewerberklientel (93-151). Dieser Befund gilt übrigens auch für die von den Autoren in den beiden letzten Abschnitten exemplarisch untersuchten inner- und außeruniversitären Konflikte. Auch hier - bei den bekannten Gelehrtenquerelen um Thomasius und Wolff (153-177), bei der Bemühung um die Normierung der Ausbildung lutherischer Pfarramtskandidaten (177-198) sowie bei den zahlreichen Konfliktfeldern zwischen Universitätsverwandten und anderen Gruppen in der Stadt (201-315) - waren Akteure mit direktem Zugang zum König bei ihren Steuerungsversuchen 'von unten' erfolgreicher.
Im Gegensatz zur Monographie von Taatz-Jacobi und Pečar sind die zu einem Sammelband zusammengefassten, vier gewichtigen Einzelbeiträge der klassischen Gelehrten- und Wissenschaftsgeschichte der frühen Universität Halle zuzuordnen. Grundlagen der vier Studien bilden neben Vorlesungsmitschriften vor allem akademische Kleinschriften wie Dissertationen, Programme und Reden. Deren Analysen geben einen profunden Einblick in die akademische Praxis und damit in die "Universitätswirklichkeit", vornehmlich an der Philosophischen und der Theologischen Fakultät, und zwar anhand von Gelehrten aus der "zweiten Reihe". Im Zentrum stehen also nicht die bekannten Persönlichkeiten wie Thomasius, Wolff oder Francke, sondern einige von der Forschung eher weniger berücksichtigte Professoren: Christoph Cellarius (von Hanspeter Marti), Paul Anton (von Dietrich Blaufuß), Johann Peter Ludewig (von Robert Seidel) und Daniel Herrnschmidt (von Andres Straßberger). Von allen diesen Gelehrten liegen - abgesehen von Lexikonartikeln - bezeichnenderweise keinerlei Biographien vor.
Hanspeter Marti würdigt ausführlich den Rhetorik- und Geschichtsprofessor Christoph Cellarius (1638-1707) (17-63), der durch seine Lehrbücher und andere Publikationen immerhin zu den bekannteren Professoren der Hallenser Gründungsepoche zählt. Vorgestellt wird das Wirken im Kreis seiner Kollegen anhand der Analyse von Vorlesungsverzeichnissen der Philosophischen Fakultät und von Dissertationen. Marti betont die Bedeutung von Cellarius für die Kanonbildung antik-paganer Unterrichtsstoffe für die Altertumswissenschaften, die Historie und die Rhetorik. Einen besonderen Akzent setzt Marti mit dem Hinweis auf die Lehrtätigkeit Cellarius' als Rektor am Gymnasium in Zeitz, wo er einige der später in Halle lehrenden Kollegen bereits kennenlernen konnte, darunter Christian Thomasius. Demgegenüber behandelt Robert Seidel den Geschichts- und Rechtsprofessor Johann Peter (von) Ludewig (1668-1743) als thesaurierend arbeitenden Polyhistor (65-84). Ausgangspunkt von Seidels Überlegungen ist die Auswertung der Dissertation "De prima academia, villa Platonis, cum nova Halensium collata" (Halle 1693) über die Platonische Akademie.
Bei den beiden anderen Beiträgen steht hingegen die Theologie im Zentrum: Dabei gelingt es Andres Straßberger, eine der wenigen überlieferten Vorlesungsmitschriften - nämlich die der Vorlesungen zur Homiletik des nur wenige Jahre wirkenden Pietisten Johann Daniel Herrnschmidt (1675-1723) - auszuwerten (85-110). Dieser erweist sich einerseits als Vertreter der Rhetorik der frühen Aufklärung und andererseits der Hermeneutik in der Tradition Franckes. Herrnschmidts Predigttheorie unterstreicht somit den Stellenwert der Rhetorik für die Theologie. Die Studie vermag tiefe Einblicke in die akademische Lehrpraxis der Universität zu geben. Dass der von der bisherigen Forschung kaum gewürdigte Pietist Paul Anton (1661-1730) mit seinem Lehrbuch "Elementa homiletica" (Halle 1707) ein zeitgenössisches Standardwerk vorgelegt hat, ist weithin bekannt. Dietrich Blaufuß zeichnet in seinem Beitrag die Einflüsse des mit Halle eng verbundenen Philipp Jakob Spener auf das Wirken Antons hinsichtlich der praktischen Umsetzung seines theologischen Studienreformkonzepts nach (111-150).
Alle vier Beiträge verbindet das auch im Titel des Sammelbandes formulierte Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation an der Universität Halle, wobei insbesondere die Wirksamkeit von Gelehrtennetzwerken sichtbar gemacht wird, etwa in den Beiträgen von Marti und Blaufuß. Die Studien regen dazu an, abseits der klassischen universitäts- und gelehrtengeschichtlichen Quellengattungen auch das akademische Kleinschrifttum künftig stärker in die Forschung einzubeziehen und dabei nicht nur nach den 'großen Namen' zu fragen.
Eine einzige Anmerkung möchte sich der Rezensent aber noch am Ende erlauben: Wenn man nach der Lektüre kaum mehr von einer 'generalstabsmäßig' aufgebauten Universität in Halle ausgehen kann, so kann ihr das Label einer ausstrahlungsstarken Institution der frühen Aufklärung sicher nicht aberkannt werden - trotz aller Dekonstruktion im Einzelnen (wäre nicht auch vielleicht als nächstes der Charakter Göttingens als "Reform-" beziehungsweise "Innovationsuniversität" kritisch zu hinterfragen? Das Jubiläum der Georgia Augusta wirft ja schon seine Schatten voraus ...). Eine eher beiläufige - und sicher völlig zutreffende - Bemerkung bei Taatz-Jacobi und Pečar lautet, dass Halle eine Universität gewesen sei, "die überall der Tradition bereits bestehender Landesuniversitäten folgte" (62), mithin nicht explizit als institutioneller Ort der Reform und Innovation gegründet wurde. Der Terminus "Landesuniversität" taucht im Text immer wieder auf - meist mit dem erläuternden Hinweis "für Brandenburg-Preußen" -, ohne diesen Typus einmal näher zu definieren. Nun existierten freilich bei der Gründung der Fridericiana bereits drei ältere Volluniversitäten im zusammengesetzten brandenburg-preußischen Staat: Frankfurt an der Oder (1506), Königsberg (1544) und Duisburg (1655), die hinsichtlich der Professoren und der Studenten um 1700 ja jeweils ganz unterschiedliche konfessionelle Profile besaßen. Zweifellos - dies zeigen die schieren Immatrikulationszahlen - hatte Halle (und zwar auf Dauer!) den älteren Hochschulen, namentlich der alten kurbrandenburgischen Landesuniversität Viadrina, ganz erheblich geschadet. Dieser Befund gilt übrigens auch für die lutherischen Universitäten der Wettiner in Wittenberg, Leipzig und Jena, gegen deren Konkurrenz sich vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Studienverbote für brandenburgische Landeskinder seitens des Großen Kurfürsten gerichtet hatten. Es bliebe also eine offene Frage für die zukünftige Forschung, wie sich die neue, geographisch sehr klug platzierte Hochschule in Halle in das System der hohenzollernschen und wettinischen Universitäten einfügen, mithin welche Rolle ihr tatsächlich zukommen sollte. Die beiden hier zu besprechenden Bücher zeigen jedenfalls eindrücklich das gerade in jüngerer Zeit gewachsene Interesse an der Geschichte der Fridericiana. [5] Es ist freilich zu hoffen, dass dieses Interesse noch lange anhält.
Anmerkungen:
[1] These von Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971. Dieser Konnex wird nicht in Frage gestellt, wohl aber differenzierter gesehen, vgl. zuletzt - gewissermaßen als Komplementär zu der zu besprechenden Monographie - Holger Zaunstöck / Brigitte Klosterberg / Christian Soboth / Benjamin Marschke (Hgg.): Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen, Halle 2017.
[2] Daniel Fulda / Andreas Pečar (Hgg.): Innovationsuniversität Halle? Neuheit und Innovation als historische und als historiographische Kategorien, Berlin/Boston 2020.
[3] Vgl. die von Marian Füssel und Andreas Pečar organisierte Tagung "Aufklärungsuniversitäten im Alten Reich? Institutionelle und epistemologische Neuanstöße im 18. Jahrhundert in der deutschen Hochschullandschaft" in Halle vom 23.-25. September 2021 [Tagungsband im Druck], vgl. https://www.izea.uni-halle.de/fileadmin/content/Veranstaltungen/2021/[Fin-3]Flyer_AufklaeungsUniv7.pdf [zuletzt: 01.11.2023].
[4] Hinsichtlich der Einschätzung der Berufungspolitik fehlt in der Bibliographie die hierfür einschlägige Studie von Andrea Lehmann: Können und Kennen. Reformen der Brandenburg-preußischen Berufungspolitik in der Frühen Neuzeit, Marburg 2014.
[5] Exemplarisch zu nennen sind hier vor allem die Dissertationen von Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik. Motive, Verfahren, Mythos (1680-1713), Berlin 2014, und Julia Schopferer: Sozialgeschichte der halleschen Professoren 1694-1806. Lebenswege, Netzwerke und Raum als Strukturbedingungen von universitärer Wissenschaft und frühmoderner Gelehrtenexistenz, Halle (Saale) 2016.
Matthias Asche