Andrew J. M. Irving / Harald Buchinger (eds.): On the Typology of Liturgical Books from the Western Middle Ages. Zur Typologie liturgischer Bücher des westlichen Mittelalters (= Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen; Bd. 115), Münster: Aschendorff 2023, XI + 658 S., 18 Farb-Abb., ISBN 978-3-402-11292-2, EUR 88,00
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Das wichtigste Wort des Titels ist klein, so dass man es fast überliest. Es steht gleich am Anfang: "On" (bzw. "Zur" im deutschen Titel). Wichtig deshalb, weil es zu Missverständnissen und Enttäuschungen führen kann, wenn man es tatsächlich überliest. Der hier zu besprechende Sammelband handelt nämlich keineswegs in seinen einzelnen Beiträgen einzelne Typen liturgischer Bücher ab, wie noch die fünf Sektionen, welche die 18 Beiträge ordnen, glauben machen könnten: "I. Mass Books" - "II. Books for Readings Used at Mass" - "III. Ordines, Pontificals, and Commentaries" - "IV. Books Containing Music" - "V. Composite Sources, Beyond those Used in the Mass".
Dabei knüpft der Sammelband, der auf eine Regensburger Tagung aus dem Jahr 2016 zurückgeht, doch an die Arbeit eines großen Typologisierers liturgischer Handschriften an, nämlich an Klaus Gamber (IX-X). [1] Allerdings geschieht dies in durchaus kritischer Absicht: "Die Typologie liturgischer Bücher des westlichen Mittelalters stellt sich nämlich wesentlich komplexer dar, als die klassischen Einführungen und Hilfsmittel der Liturgiewissenschaft suggerieren; zahlreiche Quellen entziehen sich auch einer eindeutigen Terminologie" (X).
Die skizzenhafte Einordnung in die liturgiewissenschaftliche im allgemeinen und die Regensburger Forschung (Gambers Hauptwirkungsort) im besonderen liefert der Mitherausgeber H. Buchinger als Gastgeber der zugrundeliegenden Tagung im Vorwort. Die grundlegenden inhaltlichen Ausführungen in der kurzen, aber konzisen Einleitung (1-10) überlässt er seinem Herausgeberkollegen A. J. M. Irving, der auch die "Hauptverantwortung für die Redaktion des Tagungsbandes trug" (XI) und der fairerweise gegen die alphabetische Reihenfolge an erster Stelle firmiert.
Diese angesprochene Arbeitsteilung scheint kein Zufall zu sein. Wenn den Rezensenten nicht alles täuscht, hinkt die deutsche Forschung dem Trend hinterher, eingefahrene Typologien liturgischer Handschriften zunehmend zugunsten einer detaillierten Betrachtung des einzelnen liturgischen Kodex in Frage zu stellen. Liegt es daran, dass die deutsche Liturgiewissenschaft weniger auf Handschriftenforschung ausgerichtet ist? Oder scheut man sich im Land der DIN-Normen ganz einfach vor dem Chaos des Nicht-Normierten und Nicht-Normierbaren?
Wie dem auch sei, der Anteil der fremdsprachigen Beiträge erreicht wohl nicht zufällig fast den der deutschsprachigen (8 zu 10, mit Einleitung 9 zu 10). Auch ein weiterer statistischer Blick auf die Beiträge ist signifikant. Zwar stellen die Autorinnen und Autoren aus der Liturgiewissenschaft mit 8 Beiträgen die relative Mehrheit, die Musikwissenschaft mit 7 folgt ihnen aber auf den Fuß. Das zeigt einmal mehr, welche große Bedeutung sich dieses Fach gerade in der Erforschung liturgischer Handschriften in den letzten Jahrzehnten erworben hat. Dazu kommen noch zwei Historikerinnen und ein Kunsthistoriker.
Irving stellt in der Einleitung als Charakteristik des Bandes heraus: "Questioning has here been prized over synthesis" (10) und er gruppiert die Beiträge (gewissermaßen alternativ zu ihrer tatsächlichen Anordnung) nach Aspekten dieser Infragestellungen. Darin sieht er einen Zugang, der den dramatischen Veränderungen im Forschungsfeld gerecht werden könne. Wenn er am Ende der Einleitung der Hoffnung Ausdruck gibt, die aufregende Stimmung des kreativen Forschens, nicht die ruhige Sicherheit akzeptierter Veröffentlichungen zu evozieren, kann man ihm attestieren, dass dies gelungen ist.
Hier fehlt der Platz alle Beiträge, die durchweg lesenswert sind und zudem stärker aufeinander Bezug nehmen, als dies in Sammelbänden zumeist der Fall ist, zu besprechen und den Reichtum an Beobachtungen, Einsichten und Anregungen, den sie bieten, auch nur im Ansatz zu würdigen. Stattdessen soll im folgenden das in der Einleitung stark gemachte "Questioning" exemplarisch fortgesetzt werden. Gerade auch die kritischen Fragen, die an die Beiträge des Bandes anknüpfen und sie weiterdenken, erweisen ja die Fruchtbarkeit des verfolgten Konzepts.
Ein Ausgangspunkt des typologiekritischen Ansatzes sind schwer einzuordnende Kodizes wie die merowingischen (Ch. Lazowski) oder die Priesterhandbücher (M. Wenz). Dass sich manche Fälle keinem Raster fügen, widerspricht allerdings noch nicht dem Wert einer Typologie. Zweifellos ist die genaue Untersuchung einzelner Handschriften ein großer Fortschritt. [2] Allerdings droht dabei die Gefahr, im Einzelfall steckenzubleiben und dadurch den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen.
Wie der Zugang über eine einzige Handschrift aussehen kann, zeigt exemplarisch (fast möchte man sagen: überspitzt) der hundertseitige (freilich etwas redundante) Beitrag von D. DiCenso. Seine Neuinterpretation des untersuchten Kodex ist überzeugend, allerdings stellt sich die Frage, wie diese Mikroperspektive mit der Makroperspektive der Typologie zu vermitteln ist. Sein Vorschlag lautet, das Konzept 'Typologie' durch das Konzept 'Affordances' zu ersetzen. Damit kann sicherlich ein zu starkes Schubladen-Denken vermieden werden. Aber wie bezeichnet man ein liturgisches Buch in einem Handschriftenkatalog ohne typologisierende Begriffe zu benutzen? DiCenso selbst verzichtet letztlich auch nicht auf sie, wenn er durchgehend von einem "sacramentary-antiphoner" spricht.
Schließlich hat sich der Rezensent bei zwei Beiträgen (L. Kruckenberg, H. Parkes) gefragt, ob man sich nicht nur kritische Gedanken über Typen liturgischer Bücher, sondern auch über deren (vermeintliche) Archetypen (im editorischen Sinne) machen sollte. Das mögen Begriffe sein, die trotz des ähnlichen Klangs methodisch zunächst wenig miteinander zu tun haben. Irving spricht allerdings unter Verweis auf Parkes den manchmal verzerrenden Einfluss von Editionen an (10, Punkt 5), und in früheren Veröffentlichungen hat der Autor selbst die Editionsgeschichte des von ihm untersuchten Pontificale Romano-Germanico problematisiert. [3] Allerdings geschah dies nicht und geschieht auch hier nicht unter der Frage, ob bei derartigen Zusammenstellungen die Rekonstruktion eines Archetyps überhaupt sinnvoll ist. Muss nicht eine derartige Editionsmethode (wie sie Vogel und Elze angewandt haben) infrage gestellt werden, die den Eindruck von Normierung erweckt, wo es gar keine oder doch keine strikte oder gesteuerte gegeben hat?
Dies sind nur wenige Überlegungen und Fragen, zu denen der gedankenreiche Band anregt.
Anmerkungen:
[1] Klaus Gamber: Codices liturgici Latini antiquiores. Fribourg 1968 (Supplementum, ebd. 1988). Das Typologisierende zeigt sich expliziter in der umstrittenen Vorgängerveröffentlichung: Ders. (Hg.): Sakramentartypen. Versuch einer Gruppierung der Handschriften und Fragmente bis zur Jahrtausendwende. Beuron 1958.
[2] In dieser Hinsicht ist es durchaus konsequent, wenn der Band zwar weder ein Personen-, noch ein Sach-, aber ein Handschriftenverzeichnis besitzt.
[3] Etwa: Henry Parkes: Questioning the Authority of Vogel and Elze's Pontifical romano-germanique. In: Helen Gittos / Sarah Hamilton (eds.): Understanding Medieval Liturgy. Essays in Interpretation. Farnham-Burlington/VT 2016, S. 75-101; vgl. die Rezension in: https://www.sehepunkte.de/2016/07/28383.html
Stephan Waldhoff