Rezension über:

Hans F. Haefele / Ernst Tremp (eds.): Ekkehart IV. St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli) (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi; 82), Wiesbaden: Harrassowitz 2020, XIII + 688 S., ISBN 978-3-447-11178-2, EUR 98,00
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Rezension von:
Stephan Waldhoff
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Leibniz-Edition, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Waldhoff: Rezension von: Hans F. Haefele / Ernst Tremp (eds.): Ekkehart IV. St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli), Wiesbaden: Harrassowitz 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/34823.html


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Hans F. Haefele / Ernst Tremp (eds.): Ekkehart IV.

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Die Casus sancti Galli Ekkeharts IV. von Sankt Gallen zählen zweifellos zu den farbigsten, erzählfreudigsten und damit auch unterhaltsamsten Quellen des Mittelalters. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Joseph Victor von Scheffel sie für seinen 1855 publizierten historischen Roman Ekkehard ausgeschlachtet hat. Sein Werk wurde einer der erfolgreichsten deutschen Romane des 19. Jahrhunderts und blieb bis weit in das 20. hinein populär. Sein Held war lange Jahrzehnte "[u]nser Mann im Mittelalter", bevor er von Ecos William von Baskerville abgelöst wurde. [1] Scheffel hatte seine Schilderungen unter Berufung auf seine Quelle beglaubigt, die er in Form von lateinischen Zitaten aus der damals maßgeblichen ersten Monumenta-Edition an gegebener Stelle in Anmerkungen anführte. Das hat ihn freilich nicht davor bewahrt, das frühmittelalterliche Mönchtum massiv zu verzeichnen. Zudem wurde ihm vorgeworfen, unterschiedliche Epochen und Personen der Klostergeschichte miteinander vermischt zu haben.

Den sorglosen Umgang mit der Chronologie und ständige Anachronismen musste sich freilich auch seine Quelle, Ekkehart IV., von der positivistischen Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts vorwerfen lassen, der er als einer "der unseriösesten Klosterchronisten aller Zeiten" erschien (46). Von dieser Kritik ist die zweite und bis zum Erscheinen der hier vorzustellenden Neuedition maßgebliche moderne Ausgabe, die Gerold Meyer von Knonau 1877 herausbrachte, durch und durch geprägt. [2]

Sie ist nun durch eine Neuedition wiederum im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica abgelöst worden. Die neue Ausgabe hat eine längere Geschichte, die bereits in der Mitte der 50er Jahre begann. Es war vor allem der Zürcher Mittellateiner Hans F. Haefele, der sie vorangetrieben hat, aber bei seinem Tode 1997 "ein in weiten Teilen erarbeitetes, aber bei weitem nicht vollendetes Werk" zurücklassen musste (VI). Im Vorgriff auf die kritische Ausgabe hatte er jedoch schon 1980 eine Studienausgabe im Rahmen der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe veröffentlicht, ohne kritischen Apparat und mit sehr knappen Erläuterungen, aber mit deutscher Übersetzung. [3] Nach Haefeles Tod wurde die Arbeit dem Historiker Ernst Tremp übertragen, der sie unter Mitarbeit der Philologin Franziska Schnoor jetzt glücklich abschließen konnte. Tremp war von 2000 bis 2013 Stiftsbibliothekar in Sankt Gallen und somit einer der Nachfolger nicht nur des ersten modernen Editors der Casus, Ildefons von Arx, sondern auch von deren Autor, wie er im Vorwort bemerkt (XI-XII).

Die Textüberlieferung der Casus sancti Galli beschränkt sich auf das behandelte Kloster selbst und ist unproblematisch. Insofern braucht hier über den Editionstext und den kritischen Apparat, die beide von Franziska Schnoor "auf der Grundlage des Haefele'schen Manuskripts [...] überarbeitet" worden sind (IX), nichts gesagt zu werden. Hervorgehoben seien aber die umfangreichen Register, die den Text erschließen (545-688). Entsprechend der begrüßenswerten Politik der Monumenta, den Editionstexten jetzt vermehrt auch Übersetzungen gegenüberzustellen, handelt es sich um eine zweisprachige Ausgabe. Dafür konnte auf die Übersetzung von Haefele zurückgegriffen werden, die aber auch überarbeitet wurde.

Die Erläuterungen sind im Vergleich zu Haefeles Studienausgabe erheblich angewachsen, bewahren aber im Gegensatz zu jenen Meyers von Knonau, dessen "in umfangreichen Kommentarnoten ausgelebter kritischer Furor die Sicht auf den Text eher verstellt als freigibt" [4], ein vernünftiges Maß. Selbstverständlich werden auch von Tremp die zahlreichen Anachronismen und Verwechselungen Ekkeharts kenntlich gemacht, allerdings ohne den denunziatorischen Eifer seines Vorgängers. Dagegen treten nun die Nachweise der "zahlreichen literarisch-philologischen Bezüge" (93) stärker hervor.

Nicht ganz überzeugend ist die Behandlung dieser Bezüge im Editionstext. In der Einleitung heißt es: "Eindeutige Quellenzitate werden im Text kursiv hervorgehoben, literarische Anklänge hingegen nur im Kommentar und im Stellenregister ausgewiesen." (93) Kann man hier tatsächlich eine eindeutige Grenze ziehen? Und was bedeutet dies in der editorischen Praxis? Jedenfalls finden sich in kursivierten Wendungen auch einzelne Wörter, die nicht wörtlich der zitierten Vorlage entsprechen, die Gleichung: kursiviert = wörtlich zitiert, kann also nicht gemeint sein. Zudem kommt der Verdacht auf, dass Inkonsequenzen in der Behandlung von Zitaten / Anspielungen möglicherweise auf diese problematische Entscheidung zurückgehen (148 ist "cor regis" als Zitat kursiviert, 154 nicht).

In einer Hinsicht bleibt Tremp seinem kritisierten Vorgänger nach Meinung des Rezensenten noch zu stark verhaftet, nämlich in der Einschätzung der Casus als Geschichtsquelle. Zwar weist er darauf hin, dass die Verschiebung des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses den Quellenwert nicht mehr von der Frage chronologischer Zuverlässigkeit abhängig zu machen braucht, aber zugleich zieht er sich merkwürdig defensiv auf die Position zurück, in manchen Punkten habe sich Ekkehart doch als zuverlässiger erwiesen als lange vermutet. Gegen die Historiker des 19. Jahrhunderts., die sich gar nicht vorstellen konnten, ihre mittelalterlichen Vorgänger hätten in der Geschichte etwas anderes suchen können als sie selbst, wäre doch zu fragen, ob ein Mönch des 11. Jahrhunderts die Vergangenheit seines Konvents nicht aus einer anderen Perspektive betrachtet haben könnte als ein moderner Geschichtsprofessor. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass die Bemerkungen "zur literarischen Stellung" (46) der Casus in demselben Abschnitt der Einleitung ziemlich blass ausfallen. Im Vorwort zitiert Tremp zustimmend Ernst Hellgardts Charakterisierung des Werkes als "paradigmatisch erzählender Kommentar zur Benediktsregel" (IX) - aufgegriffen hat er einen solchen Ansatz aber nicht.

Aber das sind Fragen der Interpretation, für welche die Edition nicht den Schluss-, sondern den Ausgangspunkt bilden sollte. Dafür, dass sie einen ebenso soliden wie bequem zu nutzenden Ausgangspunkt für die weitere Erforschung dieses faszinierenden Geschichtswerkes geschaffen haben, gebührt den Editoren, lebenden wie verstorbenen, unser Dank.


Anmerkungen:

[1] Harald Weinrich: Unser Mann im Mittelalter, in: Merkur, 37. Jahrgang, Heft 415 (1983), 95-97.

[2] Ekkeharti (IV.) Casus sancti Galli. Neu hg. durch Gerold Meyer von Knonau (= St. Gallische Geschichtsquellen 3. Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte; N.F. 5/6), St. Gallen 1877.

[3] Ekkehard IV.: St. Galler Klostergeschichten. Übersetzt von Hans F. Haefele (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe; 10), Darmstadt 1980, 5., erw. Aufl. 2013.

[4] Ratpert: St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli). Hg. und übersetzt von Hannes Steiner (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi; 75), Hannover 2002, VI. Diese Charakterisierung war also nicht auf Meyer von Knonaus Ekkehart-Ausgabe, sondern auf seine Ausgabe von Ekkeharts Vorgänger Ratpert gemünzt, lässt sich aber problemlos übertragen.

Stephan Waldhoff