Kerstin Schwenke: Öffentlichkeit und Inszenierung. Besuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zwischen 1933 und 1945 (= Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945; Bd. 16), Berlin: Metropol 2021, 572 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-555-9, EUR 29,00
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Kerstin Schwenke hat eine Studie über Kontaktzonen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeiten und dem System der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager vorgelegt. Die Studie ist eine leicht überarbeitete Fassung der Dissertation, die die Autorin 2019 am Zentrum für Holocaust-Studien des Instituts für Zeitgeschichte abgeschlossen hat und die 2020 mit dem Irma-Rosenberg-Preis der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte ausgezeichnet wurde.
Es ist ein dickes Buch geworden: Auf mehr als 550 Seiten bündelt die Arbeit die Praxis von Kommunikation und Inszenierung zwischen dem System der Lager und der Außenwelt. Die Autorin nutzt dafür den Begriff des Besuchs, den sie als "formelles, von einer NS-Einrichtung genehmigtes Zusammentreffen zwischen Lagerinsassen, Bewachern und von außen Kommenden auf dem Lagergelände" (16) definiert und auf offizielle, nicht alltägliche Ereignisse beschränkt. Kontakte außerhalb des Lagergeländes, zu Zivilbeschäftigten oder der Umgebungsbevölkerung während der Zwangsarbeit werden nicht betrachtet. Schwerpunkt sind dabei die großen Konzentrationslager (vor allem Sachsenhausen und Dachau) auf dem Gebiet des Deutschen Reiches, weniger die Vernichtungslager im besetzten Osteuropa. Das feingliedrige Inhaltsverzeichnis ermöglicht leider kaum das Nachschlagen einzelner Lager. Ein Ortsregister wäre an dieser Stelle nützlich gewesen.
Der theoretische Zugriff erfolgt über den Performanz-Begriff, mit dem situativ die Interaktionen und Rollen der Beteiligten im Aufeinandertreffen analysiert werden. Die Autorin nutzt hier vor allem den Rahmen der Interaktions-Theorie von Erving Goffman, der zur Analyse der sozialen Beziehungen auch für das System der Konzentrationslager produktiv gemacht werden kann. [1]
Nach einer kurzen Erörterung der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Besuche werden ausführlich fünf Besuchstypen analysiert: durch Angehörige, die eine "Sprechgenehmigung" für den Besuch von Insassen der Lager beantragten, Besichtigungen durch Mitglieder der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" und ihrer Untergliederungen, die Inspektionen übergeordneter SS-Organe, "Truppenbetreuungen" der Wachmannschaften (ein echtes Desiderat der Forschung), Besuche aus nicht-nationalsozialistischen Staaten und durch internationale Organisationen sowie zuletzt Besuche durch mit dem nationalsozialistischen Deutschland sympathisierende oder verbündete Regime und Organisationen.
Das primäre Interesse der Autorin liegt dabei auf den Inszenierungsstrategien der SS gegenüber den verschiedenen Besucher:innen. Waren diese Strategien in den Jahren 1933 und 1934 noch durch das Experimentieren der einzelnen Lagerkommandanten geprägt, gab es mit dem wachsenden Einfluss der Gestapo, der Inspektion der Konzentrationslager und später mit dem SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt bald zentrale Stellen, die Einfluss auf die Ausgestaltung der Besuche nahmen. Das Besuchsregime war damit uneinheitlich und von verschiedenen Interessen im nationalsozialistischen Staat geprägt. Kerstin Schwenke gelingt es sehr gut zu zeigen, wie sich der Funktionswandel des Lagersystems zwischen den frühen Konzentrationslagern und dem ausgehenden Zweiten Weltkrieg auf die Inszenierung nach innen und außen ausgewirkt hat. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach Strategien, Erfolg und Glaubwürdigkeit der Inszenierung.
So stand bei Besuchen von Pressedelegationen oder internationalen Hilfsorganisationen der Anschein der Lager als Disziplinierungsanstalten für Regimegegner:innen im Vordergrund, in denen scheinbar humanitäre Regeln des Strafvollzugs galten. Der Hitlerjugend, Gruppen der NSDAP und der nationalsozialistischen Presse wurden bei Besuchen im Lager praxeologisch die rassistische "Modellierung der 'Volksgemeinschaft'" (308) vorgeführt. Bei Inspektionsreisen durch die höheren SS-Funktionäre und Besuchen von Angehörigen der Repressionsorgane verbündeter Regime standen die effiziente Bekämpfung der Gegner des Nationalsozialismus, Einbindung in die Kriegsproduktion und die Durchführung der Vernichtungspolitik im Vordergrund. Gleichzeitig gab es Zugeständnisse und Ausnahmen, etwa bei Besuchen von Wehrmachtssoldaten, deren Angehörige in einem Konzentrationslager gefangen gehalten wurden. Immer wieder gelang es zudem den Gefangenen selbst, Inszenierungsstrategien zu durchbrechen und bei diesen Gelegenheiten Informationen über die Verhältnisse in den Lagern an die Außenwelt weiterzugeben.
Maßstab für den Erfolg jenseits einer einseitigen Propaganda (ein Begriff, den die Autorin verwirft) war dabei die Verankerung eines Bilds der Lager als Orte der Umerziehung durch Arbeitszwang und Gewalt gegen "Gemeinschaftsfremde". Das Konzentrationslager als modellhafte Institution zur Durchsetzungen der nationalsozialistischen Arbeitsnorm zu zeigen, stand im Fokus vieler Inszenierungsstrategien und wirkte lange nach. Im Fall des Konzentrationslagers Dachau verhandelte etwa der Bayerische Landtag noch im Januar 1948 einen Antrag der CSU, das Lager zur "Umerziehung von arbeitsscheuen Elementen hin zu willig arbeitenden Menschen" wieder in Funktion zu setzten. [2]
Die Studie basiert im Wesentlichen auf Quellenmaterial aus der Verwaltung der Lager, Presseberichterstattung in Zeitungen, Illustrierten und anderen Bildmedien sowie zu einem guten Teil auf nachträglichen Erinnerungsberichten von Überlebenden und Angehörigen. Überzeugend gelingt Kerstin Schwenke dabei, die nachträglichen Rechtfertigungsstrategien in diesen Berichten kritisch bei der Rekonstruktion der Besuchspraxis zu kontextualisieren, etwa im Fall der Ermittlungen von SS-Richter Konrad Morgen (166). Zudem hat die Autorin in einer breiten Archivrecherche die Spuren der Inszenierung bei den verschiedenen internationalen Organisationen und diplomatischen Vertretungen recherchiert. Aufgrund der Disparität gelingt es aber nur in einigen Fällen, die "Gegenüberlieferung" nicht-deutscher Provenienz mit einzubeziehen, wie die Autorin auch selbst schreibt (35). Hier liegt sicherlich ein Potential für vertiefende Studien, die einer weniger breiten Definition des Begriffs "Besuch" folgen und sich auf einzelne Öffentlichkeiten oder Akteur:innen beschränken können, denen Einblicke in die Konzentrationslager gewährt wurden.
Für eine solche Weiterarbeit legt Kerstin Schwenkes Studie eine ausgezeichnete Grundlage. Um ihre übergreifende und empirisch fundierte Analyse wird man nicht herumkommen, wenn man sich in Zukunft mit der Inszenierung und Besuchspraxis im System der Konzentrationslager wissenschaftlich beschäftigt.
Anmerkungen:
[1] Marc Buggeln / Michael Wildt: Lager im Nationalsozialismus. Gemeinschaft und Zwang, in: Die Welt der Lager. Zur "Erfolgsgeschichte" einer Institution, hgg. von Bettina Greiner / Alan Kramer, Hamburg 2013, 166-202, hier 184f.
[2] Zitiert nach: Benjamin Bauer: Arbeitszwang gegen "Asoziale"? Kontinuitäten des KZ Dachau in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in: Wissen schafft Demokratie 7, 18.06.2020, https://www.doi.org/10.19222/202007/14 (17.02.2024).
Markus Wegewitz