Bettina Hitzer / Benedikt Stuchtey (Hgg.): In unsere Mitte genommen. Adoption im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2022, 237 S., ISBN 978-3-8353-5199-8, EUR 28,00
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Der Titel dieses schmalen, aber, um es vorweg zu nehmen, sehr lesenswerten Sammelbandes, wirft einige Fragen auf. Wer ist "uns", wer ist das "Genommene" und was meint hier "Mitte", die zudem noch impliziert, dass etwas oder jemand vorher am Rand stand oder gar nicht dazugehörte? Ist damit die Adoption gemeint, die ein armes, elternloses Kind in eine warme, familiäre Umgebung führt? So einfach, einheitlich und normativen Vorstellungen folgend war die historische Realität doch sicher nicht. Das zeigt schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Bandes, welches unter anderem Beiträge zum "Verschwinden", zu "politisch motivierter Adoption" und behördlicher Willkür ankündigt. Doch greifen die Herausgeber_innen in ihrer Einleitung den Cover-Titel nicht auf, sondern haben, anders als die meisten Sammelbandeinführungen, sogar eine ganz andere Überschrift für ihren Text gewählt, die inhaltlich sehr viel besser passt, nämlich "Brennglas Adoption".
Denn so scheinbar eindeutig und begrenzt das Forschungsthema ist, so vielfältig und anschlussfähig ist es in räumlicher, methodischer und thematischer Hinsicht. Einleitend wird Benedikt Stuchteys Definition von Adoption aus der Enzyklopädie der Neuzeit zitiert als "'die künstliche Schaffung eines Eltern-Kind-Verhältnisses'". Und genau diese "künstliche Schaffung" einer "eigentlich biologischen" Beziehung ist es, die das thematische Prisma für historische Betrachtungen entfaltet. Denn was heißt mit Bezug auf Elternschaft und Kindheit schon "biologisch" oder "natürlich" im Gegensatz zu "sozial" oder "künstlich"? Diese Dichotomie wird direkt hinterfragt, wenn Erdmute Adler in ihrem Aufsatz zur Kindspflegschaft in Benin die komplexen, auf unterschiedliche verwandtschaftliche, regionale und politische Aspekte bezogenen Vorstellungen von Elternschaft und Familie in Westafrika erläutert. Ein Kind gehört hier nicht "seinen" Eltern, sondern wird in größeren Sozialgruppen, über Siedlungsgrenzen hinweg, in unterschiedliche ländliche oder städtische Umgebungen "getauscht" und versorgt, erzogen und ausgebildet. Mit dem Begriff der Adoption aus dem westlichen, bürgerlichen Recht hat das nicht viel zu tun. Im ganzen Aufsatz wird der Begriff nicht einmal verwendet, aber leider findet auch keine systematische Auseinandersetzung damit statt.
Ebenso handelt es sich bei den Fällen von "politisch motivierter" Adoption in der DDR, die Agnès Arp untersucht, nicht um einen rechtlich klaren Regelfall der "Annahme an Kindes statt". Arp geht dankenswerterweise über den vereinfachenden Vorwurf einer systematischen Zwangsadoption hinaus und akzentuiert das nicht minder perfide System von Kindeswegnahmen im Fall von politisch oder moralisch unliebsamen Personen. Dabei geht es gar nicht um namhafte DDR-Oppositionelle, sondern um Menschen, die dem Arbeiter- und Bauernstaat den Rücken kehren wollten und Ausreise beantragten. Oder um Menschen, deren Lebenswandel nicht in die rigide Moral der gesellschaftspolitisch arg kleinbürgerlichen SED mitsamt repressivem Geheimdienstapparat passte. Eine Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe selbst gibt der Verzweiflung und Angst vor allem alleinerziehender Mütter Ausdruck. Sich Hilfe zu holen, zumal von behördlicher Seite, sei kaum eine Option gewesen, da man sofort in den Fokus der Autorität hätte geraten können und Gefahr laufen wäre, als nicht erziehungsfähig klassifiziert zu werden und die eigenen Kinder zu verlieren.
Ähnlich rigide Vorstellungen und disziplinierende Praktiken arbeitet ein Autorenteam der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften für die Adoptionspraxis in der Schweiz heraus. Ledigkeit der Mütter und Unehelichkeit der Kinder waren bis in die 1970er Jahre hinein Gründe für tausende Adoptionsverfahren, in die die Mütter zwar nicht auf oberste Anordnung, aber durch gesellschaftlichen und behördlichen Druck gezwungen wurden. Eine Orientierung der Entscheidungen am Kindeswohl war zumeist rein rhetorisch und wurde eher gegen die Geburtseltern in Stellung gebracht. Die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Verfahren und Platzierungen waren aufgrund einer Vielzahl staatlicher und privater Akteure kaum gegeben. Tabuisierung und Stigmatisierung hinterließen Wunden in den Biographien und Psychen der Betroffenen.
Mit der Nebeneinanderstellung dieser Beispiele soll keine relativierende Gleichstellung zwischen einer Demokratie und einer Diktatur vorgenommen werden. Doch zeigt sich, dass Adoption weit über den Einzelfall und den Kern des Rechtsvorgangs hinaus politisch-gesellschaftliche Implikationen hat. Es zeigen sich nationale Spezifika wie gesellschafts- oder systemübergreifende Gemeinsamkeiten. Adoption spiegelt und institutionalisiert Diskurse und Vorstellungen von Mutter- und Elternschaft (gleichwohl Väter fast nie thematisiert werden, aber auch das ist ja ein Befund), von Kindheit und Sorge. Als Rechtsakt ist sie zwar "nur" ein staatlich gerahmter Privatvertrag, aber hier ist das Private über alle Maßen politisch. Dies wird auch deutlich an den Beiträgen zu internationalen Adoptionen: Anja Sunhyun Michaelsen über die Adoption südkoreanischer Kinder nach Deutschland, Silke Hackenesch über die Adoption afrodeutscher Kinder in die USA und Isabell Heinemann über die Einbettung der US-amerikanischen Adoptionsdebatten in eine Zeitgeschichte der 1970er und 1980er Jahre. Adoption ist untrennbar verbunden mit einer globalisierten, vernetzten Welt, mit internationalen politischen Beziehungen, mit nationalen Selbstbildern, rassistischen, klassistischen und ableistischen Vorurteilen und sexistischen Zuschreibungen von Verantwortung für Kinder.
Diesen Umstand fassen Hitzer und Stuchtey eingangs trefflich zusammen: "Vermutlich hat kein anderes sozial- und kulturgeschichtliches Phänomen, das unmittelbar das menschliche Leben berührt, alle sozialen Schichten, alle Bildungsgrade, alle Religionen, städtisches und ländliches Leben und vieles andere so durchdrungen" (24). Die Autor_innen wie Herausgeber_innen machen ganz klar, dass dieses Feld noch lange nicht auserforscht, eher untererforscht, ist und dass ihre Beiträge hier nur einen Anfang machen können. Positiv hervorzuheben ist der Versuch, regional über Deutschland, Westeuropa und die USA hinauszugehen und verschiedene politische Systeme des 20. Jahrhunderts einzubeziehen. Die thematische, disziplinäre und methodische Vielfalt der Forschung mit Bezug zur Adoption ist nicht beliebig, aber denkbar breit: Historische, soziologische, ethnologische, rechtswissenschaftliche, philosophische, psychologische, politikwissenschaftliche Ansätze, die Kindheit, Familie, Wissen(schaft), Staat und Recht in den Blick nehmen, können hier hochgradig fruchtbar in den Austausch treten. Es ist zu wünschen, dass diese Impulse aufgegriffen und weiterverarbeitet werden.
Frank Henschel