Matthias E. Cichon / Anne Kluger / Martin Koschny / Heidi Hein-Kircher (Hgg.): Den Slawen auf der Spur. Festschrift für Eduard Mühle zum 65. Geburtstag (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 55), Marburg: Herder-Institut 2022, VIII + 283 S., ISBN 978-3-87969-476-1, EUR 47,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Osteuropa-Historiker Eduard Mühle, langjähriger Direktor des Marburger Herder-Instituts und Lehrstuhlinhaber an der Universität Münster, erhielt anlässlich seines 65. Geburtstags eine von Schüler:innen und Mitarbeiter:innen beider Institutionen herausgegebene Festschrift. Die 13 Beiträge stehen mit den Forschungsinteressen des Jubilars in Verbindung. Laut Titel steht in deren Zentrum die Slawenproblematik. Zu ihr hat Mühle mehrere viel beachtete Monografien veröffentlicht.
Die Aufsätze verteilen sich auf drei thematische Abschnitte. Der erste Teil, "Von der Elbe bis zur Mariza? Die Slawen und ihre Beziehungen im Mittelalter", greift verschiedene Aspekte der slawischen Frühgeschichte auf. Przemysław Urbańczyk geht es um grundsätzliche Probleme der Einordnung, Interpretation und Bewertung von Quellen bei der Erforschung vorchristlicher Glaubensvorstellungen. Dariusz Adamczyk fragt in seinem Beitrag, weshalb um 900 wirtschaftlich bedeutsame Orte in weit voneinander entfernten Regionen der westlichen und östlichen Slavia fast zeitgleich als "Kettenglieder der eurasischen Interaktionsökumene" (25) ausgefallen sind, und sieht als wesentliche Faktoren die Vorstöße der Magyaren und Pečenegen sowie das Treiben von Warlords und Sklavenhändlern. Als eine typische "Chronik der Bekehrungsarbeit" (33) stellt Stanisław Rosik die im 12. Jahrhundert entstandene Chronik der Slawen des Helmold von Bosau vor. Diese berichte "im Stile einer Heilsgeschichte" (35) von der Verbreitung des Christentums unter den Obodriten und Wagriern. Eine stärker am Kontext ihrer Zeit orientierte Lektüre fordert Grischa Vercamer im Hinblick auf bekannte Chroniken aus dem ostmitteleuropäischen Raum wie die von Vincent Kadłubek, Cosmas von Prag und Simon de Kéza. Das diesen Texten oft unterstellte negative Bild von den Deutschen beruhe im Wesentlichen auf nationalen Zuschreibungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert.
Die im zweiten Teil "Imagination, Rezeption, Forschung: Die Slawen in der Neuzeit" behandelten Themen sind vor allem dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zuzuordnen. Zunächst beleuchtet Hans Henning Hahn unter Rückgriff auf die Historische Stereotypenforschung die Entwicklung des deutschen Polenbildes im 19. Jahrhundert. Galten die Polen den Deutschen noch in der Zeit des Vormärz als bewunderte Freiheitshelden, kritisierte man nur wenige Jahrzehnte später ihren Nationalismus und angeblichen religiösen Fanatismus. Mit der Slawischen Idee und ihrer Rolle in der tschechischen Historiografie und Politik des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich Stefan Lehr. Er verfolgt den Übergang der in der "Nationalen Wiedergeburt" aufgekommenen romantisch-idealistischen Vorstellung einer vereinten Slavia hin zum pragmatischeren und russlandkritischeren Konzept des "Austroslawismus" der 1840er-Jahre. Bis 1918, als die Slawische Idee an Bedeutung verlor, hätten beide Diskurslinien noch - teils parallel, teils einander überschneidend - weiterexistiert. Spezielleren Aspekten widmen sich die restlichen Beiträge dieses Abschnitts. Anne Kluger geht in ihrer Untersuchung zum Slawenbild in Rudolf Steiners Anthroposophie den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen nach, die hier eingeflossen sind und miteinander vermengt werden (unter anderem Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Nietzsche, Theosophie, Rassenlehre). Als wesentlichen Beitrag zu "einer sich formierenden revisionistischen 'deutschen Ostforschung'" (147) betrachtet Martin Koschny das Schaffen Albert Brackmanns und sieht den Weg dahin bereits im negativen Russlandbild der Ostpreußischen Kriegshefte vorgeprägt, die der Historiker in den sieben Jahren seiner Königsberger Professur (1914-1920) schrieb. Das in den 1920er-Jahren bei zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen vorübergehend gepflegte Narrativ von Polen als einem slawischen Nationalstaat greift Matthias E. Cichon auf und beleuchtet am Beispiel der Posener Allgemeinen Landesausstellung (PeWuKa) von 1929 Umsetzung, Funktion und Grenzen dieses Konzepts.
Der letzte Teil des Bandes ("Instrument Vergangenheit: Geschichte als Legitimationsressource") beginnt mit einer Fragestellung von großer Aktualität: Sind Russen und Ukrainer zwei eigenständige Völker oder handelt es sich um eine Nation? Wie Ricarda Vulpius nachweist, geht Vladimir Putins auch von Teilen der russisch-orthodoxen Geistlichkeit verfochtenes Einheitsdiktum auf das im 19. Jahrhundert entstandene Projekt der "allrussischen Nation" zurück. Wie schon damals um die erinnerungskulturelle Vereinnahmung des Kiewer Reichs und seiner Hauptgestalt Vladimir I. gerungen wurde, demonstriert die Verfasserin am Beispiel der 900-Jahr-Feiern zur Taufe der Rus' und ihrer Bewertung unter den russophilen Geistlichen sowie in Podolien und Galizien. Einen Eindruck von den Möglichkeiten und Grenzen der deutsch-sowjetischen Beziehungen in den 1950er-Jahren gibt Ruth Leiserowitz, die von einem 1955 in Weimar stattgefundenen Gespräch zwischen dem litauischen Autor Atanas Venclova und Thomas Mann berichtet, in dem es um die Bestrebungen ging, für den deutschen Schriftsteller in dessen ehemaligem Sommerhaus auf der Kurischen Nehrung eine Gedenkstätte zu errichten. Jörg Hackmann geht in seinem Beitrag von der Frage aus: "War die Übernahme der historisch deutschen Ostgebiete durch Polen 1945 denkbar ohne begleitende historische Narrative?". (228) Am Beispiel der Region Pomorze zeigt er, wie in der Kooperation von Historiografie, Linguistik und Soziologie solche Narrative erzeugt wurden und wie sich dies konkret bei den Grenzveränderungen auswirkte. Einen interessanten Einblick in die wechselvolle Geschichte des Marburger Herder-Instituts geben abschließend Heidi Hein-Kircher und Christoph Schutte. Sie machen den gravierenden ideologischen und funktionalen Wandel der bedeutenden Forschungsinstitution exemplarisch an der Entwicklung der Hauszeitschrift sichtbar, die nach dem Krieg noch ein in "der Tradition der NS-Ostforschung" stehendes Organ war (Zeitschrift für Ostforschung), zunehmend aber zu der heute bekannten, "die ethnische, kulturelle und religiöse Vielschichtigkeit Ostmitteleuropas und deren Verflechtungen aufgreifenden Zeitschrift" (247) wurde, der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Im Band zeichnen sich fünf zentrale Themenfelder ab, die sich wiederholen und in den Beiträgen teils auch überschneiden: slawische Frühgeschichte, die Slawische Idee im 19. und frühen 20. Jahrhundert, nationale Bilder und Stereotypen, historische Legitimationsstrategien, deutsche Ostforschung. Die Aufsätze knüpfen somit an einige der Forschungsschwerpunkte des Jubilars an, auf dessen wissenschaftliche Arbeiten sie wiederholt Bezug nehmen. Dies ist begrüßenswert, wenngleich sich eine stärkere thematische Kohärenz daraus nicht ergibt, was von einer Festschrift allerdings auch nicht erwartet werden kann. Gleichwohl wären kreativere Strategien denkbar, über die Titelgebung eine Vorstellung vom vollen thematischen Profil des Bandes zu vermitteln. Der gewählte Titel der Publikation erscheint mir eher irreführend, zumal über die Hälfte der Beiträge keine "slawische" Fragestellung im eigentlichen Sinne aufgreift. Auch hat man sich durch die recht minimalistische Konzeption der Einleitung die Chance entgehen lassen, die Verflechtungen zwischen den verschiedenen Problemstellungen stärker herauszuarbeiten und damit die Ziele der Publikation näher zu erläutern. Dennoch muss betont werden, dass es den Herausgebern gelungen ist, eine gute Mischung aus etablierten Fachleuten und ambitionierten Nachwuchskräften zu gewinnen, die hier interessante Einblicke in ihre eigenen wissenschaftlichen Aktivitäten bieten und innovative Perspektiven für die weitere Forschung entwickeln. Und ich bin mir sicher: Auch der Geehrte wird an diesem Buch seine Freude haben und daraus selbst viele Anregungen für sein weiteres Schaffen ziehen können.
Reinhard Ibler