Philipp Müller: Kopf und Herz. Die Forschungspraxis von Johann Gustav Droysen, Göttingen: Wallstein 2023, 167 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5233-9, EUR 19,90
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Als der erste Band von Johann Gustav Droysens Biografie "Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg" (3 Bände, 1851/52) erschien, war der porträtierte Feldherr aus der Zeit der 'Befreiungskriege', der vor allem durch die eigenmächtige Unterzeichnung der Konvention von Tauroggen 1812 Berühmtheit erlangt hatte, seit gerade einmal gut 20 Jahren tot. Gleichwohl war er als zeithistorische Persönlichkeit der preußischen Geschichte weiterhin präsent. Die Bewertung seiner Person und Taten war in den restaurativen Zeiten nach dem Ende der 1848er-Revolution ein eminentes Politikum. Droysen durfte also von einem öffentlichen Interesse an seiner Arbeit ausgehen und suchte dieses für eine Neuprofilierung zu nutzen: Hatte er sich mit seinem Frühwerk einen Namen als Althistoriker geschaffen, so markierte die Biografie nach seinen "Vorlesungen über die Freiheitskriege" (1846) einen Wechsel in den Bereich der neuzeitlichen Geschichte, der ihm den Weg in die ersehnte Berliner Professur 1859 ebnete und dem er bis zu seinem Tod 1884 verpflichtet blieb.
Vor allem die ältere Droysenliteratur hat sich mit dem "York" beschäftigt und ihn als Zeugnis politischer (preußischer) Geschichtsschreibung unter nationalen Gesichtspunkten behandelt. Müllers Herangehensweise ist eine deutlich andere: In einer Art "dichter Beschreibung" zielt der Göttinger Privatdozent und Leiter des Archivs im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum darauf, den Entstehungskontext der Arbeit und seine Wirkung auf die Darstellungsform auszuloten. Konkret ist seine Arbeit ein Versuch, Droysens Praxis der Geschichtsschreibung zu ergründen, indem auf deren Rahmenbedingungen - die persönliche Forschungsintention und die Verortung innerhalb ähnlicher biografischer Arbeiten, vor allem aber die Materialbeschaffung und -behandlung sowie deren Spuren im Text - eingegangen wird. Müller entwirft ein Bild der Droysenschen Werkstatt, in der der "York" entstand; es geht weniger um dessen Inhalt, als um die Hintergründe und die Form der Gestaltung.
In einem ersten Kapitel widmet sich der Autor den "Voraussetzungen" des Droysenschen Werks und markiert, auch im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Biografien über Militärs und Politiker, dessen besondere politische Bedeutung. Danach erörtert er unter dem Titel "Historiografisches Design" Droysens Darstellungsabsicht, in deren Zentrum die "Porträtwahrheit" gestanden habe, also der Versuch, "die besondere Perspektive Yorcks" (40) auf die historischen Ereignisse wiederzugeben. Dass das Suchen nach Quellen und die Erlaubnis zu deren Nutzung in Zeiten vorwiegend privater und "geheimer" Archive eine Herausforderung für den Historiker darstellte, erörtert das dritte Kapitel. Droysen sei auf zahlreiche Mittelsmänner angewiesen gewesen, allen voran den Zeitzeugen Gustav von Below, die ihm Quellen beschafft, ihm Zugang zu Quellen vermittelt und ihn mit mündlichen Informationen versorgt hätten.
Die Umsetzung dieser Voraussetzungen in die Praxis des Geschichtsschreibers ist Gegenstand des vierten und längsten Kapitels "Geschichte schreiben". Müller stellt darin die Art und Weise dar, in der Droysen die von ihm zusammengetragenen "Urkunden" in sein Werk integriert habe. Er weist auf die vielen Stellen hin, an denen Droysen seinen Protagonisten und andere Akteure zu Wort kommen lässt, um so den Wahrheitsanspruch seiner Darstellung über die "Porträtwahrheit" reklamieren zu können. Dabei verfolgt er die These, "dass der Herkunftszusammenhang [der Quellen, SJ] sich nicht im Zuge der Aneignung der mobilisierten Materialien erübrigte. Vielmehr prägten das Sammeln und das Sammelnlassen wesentlich die historische Untersuchung" (83). Droysen habe schriftliche wie mündliche Quellen in seine Schilderungen integriert, wobei er in der Regel deren Aufbewahrungsorte bzw. Urheber anonymisiert oder unerwähnt belassen habe. Das "secretum", dem das Gesammelte entlockt worden war, wurde in die Biografie übernommen: "Die Pointe ist, dass die hier geübte Diskretion vor allem die so überaus zentrale materiale Grundlage des historischen Arbeitens betraf. Das historiografische Werk bildete einen in seiner Provenienz unkenntlichen Schatz von historischen Urkunden und mündlichen Überlieferungen" (111). Eine Kommentierung der Quellen, die heute über einen ausführlichen Anmerkungsapparat erfolgen würde, sei vorwiegend im Fließtext vorgenommen worden. Durch diese Form der Quellenkritik und die Geheimhaltung der Quellenprovenienz habe sich Droysen als Autorität positioniert und den Leser, der die Aussagen der Quellen nicht im (ungenannten) Archiv nachprüfen habe können und so von Droysens Wiedergabe abhängig gewesen sei, auf seine Darstellung verpflichtet.
An Müllers Arbeit zu kritisieren ist zunächst ihr Titel. Der nämlich macht überhaupt nicht deutlich, dass es sich bei dem Bändchen nicht um eine Gesamtdarstellung der Droysenschen Forschungspraxis handelt, sondern um eine Fallstudie. Sodann wird die Tätigkeit des Archivaliensammelns in Zeiten nicht-öffentlicher Archive und nicht-technisierter Kommunikationsstrukturen als von der heutigen Situation stark unterschiedlich dargestellt. War sie das wirklich? Man wird dies bejahen müssen, wenn man die heutige Arbeit in öffentlichen Archiven zum Vergleich heranzieht. Wer aber etwa über Personen arbeitet, zu denen Quellen in Privatarchiven aufbewahrt werden, wird den Unterschied als nicht allzu groß empfinden: Auch hier gibt es Formen von Zensur bei der Bereitstellung der Archivalien und von Verschweigevorgaben für die Benutzung; auch hier sind Forschende häufig auf "Türöffner" angewiesen. Und dass der Kontakt zu diesen, zu anderen Mittelsmännern und zu Institutionen heute durch Telefon und digitale Kommunikation einfacher und schneller ist, dass Quellen digitalisiert leichter bereitgestellt werden können, macht einen medialen, aber keinen grundsätzlichen Unterschied zu Droysens Zeit aus.
Der Blick in Droysens "York"-Werkstatt ist also über weite Strecken für Leserinnen und Leser nicht überraschend. Auch dass Droysen sein Werk zur Karriereförderung nutzte und sich gegen andere Historiker positionierte, ist eher typisch als außergewöhnlich. Die Stärke von Müllers Studie - und das macht sie lesenswert - liegt im vierten Kapitel, in dem es letztlich um rhetorische Strategien geht: Müller zeigt, wie Droysen Quellen in seine Darstellung integriert und warum er das tut. Er weitet damit den Blick auf die Funktion von Quellen über die üblicherweise konstatierte Belegfunktion hinaus aus und sieht in ihrer Verwendung ein rhetorisches Mittel, um Authentizität und Autorität zu erzeugen. Überzeugend ist dabei, dass Müller seine Erkenntnisse nicht aus der Untersuchung theoretischer Konzepte ableitet - was beim Verfasser der "Historik" nahe gelegen hätte -, sondern aus praktischer Geschichtsschreibung. So schafft er eine exemplarische Arbeit, deren Ergebnisse zur weiteren Beschäftigung damit einladen, mit welchen literarischen und rhetorischen Strategien historische "Wahrheiten" geschaffen werden, von welchen Hintergrundbedingungen sie abhängig sind und auf welche Ziele sie hinführen sollen.
Stefan Jordan