John Lough: Germany's Russia Problem. The struggle for balance in Europe (= Russian Strategy and Power), Manchester: Manchester University Press 2021, VIII + 296 S., ISBN 978-1-5261-5150-6, GBP 12,99
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Jacques Tardi / Jean-Pierre Verney: Elender Krieg 1. 1914-1915-1916, Zürich: Edition Moderne 2009
Rüdiger Wenzke (Hg.): Die Streitkräfte der DDR und Polens in der Operationsplanung des Warschauer Paktes, Potsdam: Militärgeschichtliches Forschungsamt 2010
Michael Gehler / David Schriffl (eds.): Violent Resistance. From the Baltics to Central, Eastern and South Eastern Europe 1944-1956, Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2020
Die Frage nach der Abgrenzung von Epochen ist ein treffliches Feld für historiografische Dispute. Relativ einfach zu bestimmen ist meist die Grenze zwischen der Vorkriegszeit und dem Kriegszustand. John Loughs Arbeit über die Beziehungen Deutschlands zu Russland ist noch der Vorkriegszeit des russischen Großangriffs auf die Ukraine im Februar 2022 zuzurechnen. Doch bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens lastete auf dem Buch der Schatten des Kriegs, weil in der Ukraine seit 2014 ein vom russischen Präsidenten Putin geschürter Unfrieden herrschte, den man als hybriden Krieg bezeichnen kann. Diesen Unfrieden nimmt Lough als Maßstab für die Bewertung einer deutschen Russlandpolitik, die er nicht nur in dichter zeitgeschichtlicher Analyse, sondern auch vor dem Hintergrund einer weit zurückreichenden deutsch-russischen Sonderbeziehung verstehen will.
Ob der von John Lough, Associate Fellow beim Russland- und Eurasien-Programm von Chatham House, verfolgte Analyseansatz der longue durée so viel zur Erkenntnis der Gegenwart beiträgt, ist eher zu bezweifeln. Dennoch ist es interessant, den Kultur- und Technologietransfer von Deutschland nach Russland einmal großräumig abzuschreiten. So verweist Lough auf viele deutsche Lehnwörter im Russischen, von denen sich allein 195 in der noch heute gebräuchlichen Bergmannssprache finden. Die zum Teil sehr warmherzigen deutsch-russischen Beziehungen, die aus diesen Kontakten resultierten, sind sicher einer der Gründe, warum die Deutschen dazu neigen, den imperialen Charakter des russischen beziehungsweise sowjetischen Staates ebenso zu übersehen wie einige der in der westlichen Peripherie der Moskauer Zentrale gelegenen Völker. Schon in der alten Bundesrepublik entwickelte sich daraus das Genre des politischen Russlandkitsches, für das Autoren wie die ARD-Journalistin Gabriele Krone-Schmalz stehen, auf deren Wirken in russlandnahen Stiftungen und Lobby-Gruppen Lough mehrfach hinweist.
Wie der Autor zeigt, war es aber gerade die Logik des imperialen russischen Staates, die Ende des 19. Jahrhunderts zur Entfremdung zwischen Russland und den beiden deutschsprachigen Staaten an seiner Westgrenze führte. Mit dem Pan-Slawismus war in Russland die Option einer kulturalistischen Reichsideologie entstanden, die die Hegemonie über weite Teile des Habsburger Reiches beanspruchte und am Vorabend des Ersten Weltkriegs das deutsche Feindbild kultivierte. Im Frieden von Brest-Litowsk kam es 1918 aber zunächst zu einer ersten Abwicklung des russischen Imperiums, die für die baltischen Staaten bis 1940 glückte, für die Ukraine und die Kaukasus-Völker aber schon im Strudel des russischen Bürgerkriegs endete. Der Holodomor war später der Preis, den die Ukraine für den erzwungenen Verbleib im postnationalen Ideologiestaat Lenins und Stalins zu zahlen hatte. Wegen des ideologischen Anspruchs auf Weltgeltung ihres kommunistischen Modells steht die UdSSR gewissermaßen als erratischer Block in den deutsch-russischen Beziehungen, aber auch in denen zwischen Russen und Ukrainern. Kann man "den Russen" die Verbrechen zurechnen, die im Sowjetstaat von einer multinationalen Clique kommunistischer Fanatiker veranlasst wurden? Lough stellt diese Frage nicht.
In seiner Schilderung der Beziehungen zwischen Berlin und Moskau bis zum Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941 fokussiert Lough etwas zu sehr auf Nebensächlichkeiten wie ein letztlich unbewiesenes Gestapo-Komplott, das zur Hinrichtung des Sowjetmarschalls Tuchatschweski geführt haben soll. Besser sind Loughs Ausführungen zum Hitler-Stalin-Pakt, die er mit Einlassungen des Präsidenten Putin vom Dezember 2019 verbindet, in denen dieser die Rolle Polens 1938 bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei und die britische Appeasement-Politik als Gründe dafür benannt hatte, warum Stalin den Pakt mit Hitler habe abschließen müssen. Lough verweist demgegenüber auf die sowjetische Annexion des damaligen Ost-Polen sowie der baltischen Staaten, die bei der Sowjetisierung dieser Gebiete begangenen Verbrechen sowie die Ertüchtigung der deutschen Kriegswirtschaft durch Rohstofflieferungen aus der UdSSR, mit denen diese 1940 zur Niederlage Frankreichs beitrug.
Im Anschluss daran gelingt es Lough, die tiefe Traumatisierung beider Völker durch den von Hitler 1941 vom Zaun gebrochenen Krieg zu skizzieren. Die schiere Dimension der Kampfhandlungen, die aberwitzige Vernichtungsprogrammatik der Deutschen für den eroberten Raum, das finstere Los der von beiden Seiten gemachten Kriegsgefangenen, die sexuelle Gewalt beim Vormarsch der Roten Armee in Deutschland, die ethnische Säuberung der deutschen Ostgebiete benennt Lough bei seiner Schilderung der katastrophalen Kriegserfahrungen von Deutschen und Russen. Während der Krieg für die Russen mit dem Sieg endete, endete er für die Deutschen mit einer totalen militärischen, politischen und moralischen Niederlage sowie der Teilung ihres Landes. Die Wiederanknüpfung von Beziehungen zwischen der UdSSR und der durch demokratische Wahlen legitimierten Bundesrepublik Deutschland gestalteten sich schwierig. Zurecht gibt Lough dem Besuch Adenauers 1955 in Moskau, der zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen und zur Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen führte, größeren Raum.
Da Lough die UdSSR des Kalten Kriegs zu Unrecht für eine Status-quo-Macht hält, kommt der von dieser seit 1969 im Zuge der Entspannungspolitik geführte Friedenskampf bei ihm nicht vor. Erst dessen finales Aufflammen im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss wird von ihm aus dem typisch britischen Blickwinkel des Able Archer-Narrativs angesprochen. Hier wäre es erhellender gewesen, die massiven Einflussgewinne zu untersuchen, die die KPdSU und ihre deutschen Bruderparteien seinerzeit bei SPD-Nachwuchspolitikern und Jusos erzielen konnten. Die späteren Karrieren von Spitzenpolitikern wie Gerhard Schröder oder Frank-Walter Steinmeier blieben davon nicht unbeeinflusst. Lough konzentriert sich stattdessen auf "The miracle of reunification" (Kap. 3), das verständlicherweise ein neues Hoch in der Affinität zwischen Deutschen und Russen zur Folge hatte.
Nach dem Aus der UdSSR blieb Russland ein gestrandetes Imperium, dessen weiterer Zerfall sich in Tschetschenien abzeichnete, das über ein enormes Kernwaffenpotential verfügte und einen beträchtlichen Überschuss an dysfunktionalen Eliten aus dem untergegangenen KPdSU-Staat aufwies. Der Schwierigkeit, für dieses Gebilde einen Platz im Internationalen System zu finden, begegneten die deutschen Eliten mit dem optimistischen Konzept der wirtschaftlichen Verflechtung. Was hätten sie sonst auch tun sollen? Ein nuklear gerüsteter Slum im Osten Europas war nicht wünschenswert. Allerdings sollte man sich gerade gegen einen solchen Ort entsprechend robust absichern.
Rückblickend gerieten die deutsch-russische Beziehungen wohl schon mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders auf eine sehr schiefe Ebene, weil die deutsche Seite keinerlei Problembewusstsein für die Herkunft des Präsidenten Putin aus dem Komitee für Staatssicherheit, dem KGB, zeigte. Der brutale Unterwerfungskrieg gegen Tschetschenien und die Übernahme der russischen Medien durch kremlnahe Akteure vermochten Schröders Vertrauen in die demokratische Verlässlichkeit des Moskauer Freundes nicht zu trüben. Auch die nachfolgenden Koalitionsregierungen unter Führung der Christdemokratin Angela Merkel sieht Lough kritisch, wobei er deren Russlandpolitik nuanciert und detailreich beschreibt. Der von Schröders ehemaligen Kanzleramtsminister Steinmeier geführten deutschen Außenpolitik wirf Lough vor, wichtige Trends, wie die von Putin vorangetriebene Wiederaufrüstung Russlands, völlig außer Acht gelassen zu haben. Steinmeier blieb auch nach dem russisch-georgischen Krieg vom Sommer 2008 seinem Mantra treu, dass Sicherheit in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland zu erreichen sei. Sanktionen gegen den russischen Aggressor lehnte er ab. Lough weist auch auf die komplette Fehleinschätzung der Interims-Präsidentschaft Dimitri Medwedews durch die deutsche Politik hin, zeigt aber fairerweise, dass die Obama-Administration der gleichen Chimäre hinterherjagte.
Dem Schlüsseljahr 2014, das der Ukraine die Revolution, die russische Besetzung der Krim und den von Moskau inszenierten Bürgerkrieg im Osten des Landes brachte, widmet Lough breiten Raum. Mit seinem Vorgehen verstieß Russland klar gegen die Prinzipien der KSZE, der Charta der Vereinten Nationen und auch gegen das von ihm mitunterzeichnete Budapester Memorandum von 1994 über den Verzicht der Ukraine auf Atomwaffen, mit dem es nochmals die territoriale Unversehrtheit des Nachbarlandes garantiert hatte. Lough verweist auf die Parallelen zwischen der Argumentation, mit der Putin sein Vorgehen rechtfertigte, und jener, die Hitler bei der Expansion gegenüber Österreich und der Tschechoslowakei benutzt hatte. Bundeskanzlerin Merkel hält er zugute, dass sie in dieser Situation einen Politikwechsel vollzog, Sanktionen befürwortete und Russland vorwarf, die europäische Friedensordnung in Frage zu stellen. Dies stieß aber auf erheblichen Widerspruch seitens politischer und wirtschaftlicher Akteure. Die deutsche Russland-Politik blieb in den folgenden Jahren entsprechend inkonsequent. Mit dem Wechsel von Steinmeier zu Heiko Maas als Außenminister habe die SPD aber 2018 eine Veränderung ihrer Russland-Politik eingeleitet. Ausführlich geht Lough auf die Rolle der vorwiegend sozialdemokratischen Gazprom-Lobby beim Bau der North Stream 2-Pipeline ein. Gleichzeitig zeigt er, mit statistischem Material gut unterfüttert, wie sehr die Bedeutung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen in der Bundesrepublik überschätzt wurde. In einem Kapitel, das erfreulich viele Namen nennt, skizziert er die russischen Geheimdienstoperationen und Einflussnetzwerke in Deutschland. In einem abschließenden Ausblick betont er noch das Fehlen von strategischer Analyse in Berlin, das sich nach dem Kalten Krieg nicht zuletzt in einer dramatischen Erosion der Verteidigungsfähigkeit niedergeschlagen habe. Alles in allem liefert Lough ein gutes Überblickswerk zu den deutsch-russischen Beziehungen des 20. und 21. Jahrhunderts, das den Krieg, der kurz nach seinem Erscheinen ausbrach, auf beunruhigende Weise antizipiert.
Michael Ploetz