Wolfgang Kraushaar: Israel: Hamas - Gaza - Palästina. Über einen scheinbar unlösbaren Konflikt, Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt 2024, 220 S., ISBN 978-3-86393-177-3, EUR 18,00
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Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg: Hamburger Edition 2005
In den letzten Monaten sind einige Bücher über das brutale Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 erschienen, über den Ablauf der Ereignisse, die politische Einschätzung, die Bedeutung für die israelische Gesellschaft und die persönlichen Reaktionen, vor allem von deutsch-jüdischen Intellektuellen. Ferner wurden der Nahostkonflikt und die geopolitische Lage in der Region vielfach ausgeleuchtet.
Nun erschien noch ein weiteres Buch über diese Themen; ein Buch über die Zäsur von 10/7, wie der Tag des Massenmords in Anlehnung an die Anschläge in New York City 2001 abgekürzt wird.
Ist diese weitere Veröffentlichung notwendig? Ja, und zwar aus zwei Gründen: Erstens treten die Geschehnisse des 7. Oktobers angesichts des darauffolgenden Krieges Israels mehr und mehr in den Hintergrund; sie werden relativiert, wie von Judith Butler, die die massive frauenverachtende Gewalt der Hamas leugnet, oder in sozialen Medien, wo einige Nutzer den Massenmord sogar gänzlich bestreiten und als israelischen inside job bezeichnen. Deshalb ist es notwendig, immer wieder auf den tiefen Einschnitt hinzuweisen, den sie in der israelischen Gesellschaft hinterlassen haben, wie es das Buch tut.
Und zweitens: Weil es Wolfgang Kraushaar verfasste. Der Hamburger Politikwissenschaftler setzt sich seit Jahrzehnten mit dem Judenhass, vor allem dem linken Antisemitismus auseinander. Das neue Buch bündelt und synthetisiert viele seiner bisherigen Erkenntnisse.
Es ist in zehn sehr unterschiedlich lange Kapitel unterteilt: Zunächst rekapituliert Kraushaar den Ablauf des 7. Oktobers und weist auf die Brutalität der Täter hin. Sie filmten ihre Taten mit Body-Cams und brüsteten sich vor laufenden Kameras damit, Juden und vor allem Jüdinnen ermordet zu haben. Die massive sexualisierte Gewalt sei systematisch von den Islamisten eingesetzt worden. Kraushaar spricht von "Schreckensmale[n] einer Form sexualisierter Barbarei, mit der sich die Täter an ihren weiblichen Opfern ausgetobt haben" (9).
Des Weiteren führt er aus, dass Solidarität mit Israel "das Gebot der Stunde" (22) sei, trotz des Regierungschefs Benjamin Netanjahu und seiner rechtsextremen Koalitionspartner. Der Ministerpräsident habe mit dem geplanten Justizumbau die größte Protestbewegung seit Langem provoziert und fürchte, nach dem Ende seiner Amtszeit selbst auf der Anklagebank zu landen. Dieser Widersprüche gelte es gewahr zu sein und jede Form der moralischen Erpressung zu unterlassen. Die Frage nach dem Kontext des Massakers, den politischen Rahmenbedingungen, sei nicht nur legitim, sondern notwendig, um zu verstehen, wie es zum Massaker der Hamas kommen konnte.
Nach einigen persönlichen Bemerkungen über sein Verhältnis zu Israel geht Kraushaar auf grundlegende Topoi ein, die zum Verständnis des Nahostkonflikts notwendig seien. Darin behandelt er die Entstehung des Zionismus, die Situation in Israel und Palästina sowie das deutsch-israelische Verhältnis vom Luxemburger Abkommen 1952 bis in die Gegenwart.
Im nächsten Großkapitel "Gleichsetzungen" diskutiert Kraushaar die vielfältigen Begriffsverwirrungen und Wortverdrehungen nach dem 7. Oktober. Er kritisiert die Zurückhaltung der deutschen Medien, die, statt deutlich von Terroristen zu sprechen, teilweise von Hamas-Kämpfern sprachen und damit eine falsche Äquivalenz schufen. Bei aller Empathie für das Leid der Palästinenser wendet sich Kraushaar klar gegen die Gleichsetzung von Nakba, also der Vertreibung und Flucht der arabischen Bevölkerung Palästinas während des Palästinakriegs, und Holocaust oder von Gaza mit einem Ghetto, wie es Masha Gessen in einem aufsehenerregenden Essay im Magazin The New Yorker getan hat.
Die pauschale Verwendung des Apartheidbegriffs gegenüber Israel weist Kraushaar ebenfalls zurück. Sie verkenne die rechtliche und staatsbürgerschaftliche Lage der arabischen Bevölkerung im Land. Der Begriff sei eher ein Ausdruck eines ideologischen Ressentiments, das Israel mit Südafrika auf eine Stufe stelle. Die Situation im Westjordanland und die Sonderrechte der jüdischen Siedler seien aber faktisch mehr als problematisch.
Zugleich kritisiert Kraushaar die Annahme, die Hamas sei eine antikoloniale Befreiungsorganisation. Eine derartige Sicht, wie sie vor allem von Teilen der Linken vertreten wird, ordnet er in die Geschichte des linken Antiimperialismus ein, der die 'Dritte Welt' oder den Globalen Süden primär als Projektionsfläche für eigene Revolutionsfantasien brauchte. Während in den 1970er Jahren viele Befreiungsbewegungen aber noch realiter emanzipatorische Ziele propagierten, treffe dies heutzutage auf die Hamas nicht zu: "Es gehört schon ein ziemliches Ausmaß an Verblendung dazu, in Bezug auf die Hamas überhaupt einen Zusammenhang wie den einer angeblichen Widerstands- und Befreiungsbewegung als eine irgendwie offene Frage erörtern zu wollen" (113). Genau dies tun jedoch viele sich als links verstehende Akademiker, darunter wieder an prominenter Stelle Judith Butler.
Ebenfalls sei es unterkomplex, Israel oder dessen Staatsideologie, den Zionismus, mit Imperialismus in Verbindung zu bringen, wie es die Linke um 1968 getan habe (und heute wieder tue). Eine solche Perspektive werde weder dem Zionismus noch der Geschichte des Nahostkonflikts gerecht: "Der Zionismus wurde unter völliger Abstraktion von seinen historischen Entstehungsbedingungen mit Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus gleichgesetzt. Das war eine an Eindeutigkeit kaum noch zu überbietende Feinderklärung an den Staat Israel und die dort lebenden Bürgerinnen und Bürger" (125).
Im folgenden Teil geht Kraushaar auf gängige Parolen und Narrative ein. Er diskutiert die Herkunft und den Bedeutungsgehalt von Parolen wie "From the River to the Sea - Palestine will be free" und "Free Palestine from German Guilt". Im letzten Kapitel behandelt der Autor die Meta-Diskurse wie Genozid, Staatsräson und Zweistaatenlösung, bevor er in einer Art Synthesekapitel die aus seiner Sicht wichtigsten Aspekte der gesamten Debatte über Israel und den Nahostkonflikt in zwölf Essentials zusammenfasst.
Kraushaar unterstreicht nochmals die Bedeutung der Existenz eines jüdischen Staats, gerade auch für die Bundesrepublik Deutschland: "Die Existenzsicherung Israels gehört zu Recht zu den unhintergehbaren Positionen deutscher Politik" (212). Zugleich müsse der Nahostkonflikt auf einem politischen Wege gelöst werden. Eine Lösung könne nur durch säkulare, nicht durch religiös-fundamentalistische Akteure erreicht werden. Die Perspektive einer Zwei-Staaten-Lösung sei, so Kraushaar, durch die Entwicklungen der letzten Jahre immer unwahrscheinlicher geworden. Vielleicht sei ein binationaler Staat, wie er bereits vor langer Zeit unter anderem von dem Religionsphilosophen Martin Buber erdacht worden sei, unter gewissen Voraussetzungen ein "Hoffnungsschimmer" (217).
Kraushaars Buch bietet einen guten und gut lesbaren Überblick über zentrale Aspekte Israels, des Nahostkonflikts und des (israelbezogenen) Antisemitismus. Der Autor wägt viele Punkte ab, reflektiert Ambivalenzen und weist immer wieder auf die bestehenden Widersprüche hin. Zugleich hindert ihn diese Abwägung nicht daran, deutlich Position zu beziehen, wenn es ihm notwendig erscheint.
Insofern ist das Buch allen empfohlen, die eine Einstiegslektüre in die komplexe Realität des Nahostkonflikts suchen.
Sebastian Voigt