Hans Joachim Teichler: Sport in den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden: NOMOS 2024, 646 S., zahlr. z. T. farb. Abb., ISBN 978-3-98572-141-2, EUR 114,00
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Jutta Braun: Wettkampf der Systeme. Sport im geteilten Deutschland (= Die geteilte Nation. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1990; Bd. 5), Berlin: BeBra Verlag 2024, 192 S., ISBN 978-3-89809-210-4, EUR 22,00
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Wer sich wissenschaftlich mit der Geschichte des deutschen Sports im 20. Jahrhundert beschäftigt, kommt an den Arbeiten von Hans Joachim Teichler nicht vorbei. Der emeritierte Professor für Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam hat ein beeindruckendes Gesamtwerk geschaffen, in dem der Sport unter den beiden deutschen Diktaturen im Mittelpunkt steht. Bemerkenswert dabei ist die Tatsache, dass er sich bereits in den 1970er Jahren mit der deutschen Sportgeschichte auseinandersetzte, als die allermeisten Historiker nicht einmal einen müden Blick auf diesen Themenbereich warfen.
Neben größeren Monografien wie etwa zur internationalen Sportpolitik im 'Dritten Reich' publizierte Teichler eine Vielzahl von Aufsätzen, in denen er immer wieder der grundlegenden Frage nachging, wie sich der organisierte Sport unter den beiden deutschen Diktaturen entwickelte. Der vorliegende Band ist ein um eine kurze Einleitung und ein knappes Resümee angereichertes Kompendium seiner weit verstreut publizierten Aufsätze, von denen der älteste vor rund einem halben Jahrhundert erschienen ist. Selbst für diejenigen, die im Zuge eigener Arbeiten auf seine Aufsätze bereits gestoßen sind, lohnt es sich, sie noch einmal zu lesen. Denn neben einem hervorragenden Überblick vermitteln sie auch einen guten Eindruck von den Gründen, warum in der deutschen Sportgeschichtsschreibung in den vergangenen Jahrzehnten erbitterte wissenschaftliche Kontroversen ausgetragen wurden.
Teichler musste sich bei der Erforschung sporthistorischer Themen bis weit in die 1990er Jahre hinein noch weitgehend auf eigene Forschungsarbeiten stützen. Lediglich einer seiner akademischen Lehrer, Hajo Bernett, hatte ihm ein paar nützliche Arbeiten über den Sport im 'Dritten Reich' hinterlassen. Der Rest der Sekundärliteratur, die er heranzog, bestand überwiegend aus eigenen Titeln oder Arbeiten, die mit Sportgeschichte allenfalls am Rande etwas zu tun hatten. So war Teichler bei seinen Forschungen lange Zeit fast ausschließlich auf die verfügbaren Quellen zurückgeworfen, die er ohne größeren Theorieapparat analysierte. Gleichgültig, ob er sich mit Max Schmeling, der Talentförderung in der DDR oder Doping auseinandersetzte: Seine Aufsätze betraten in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht noch weitgehend unentdecktes Land. Dieser weitgehende Verzicht auf exzessive Theoriebildung, die mitunter dazu neigt, das Vetorecht der Quellen zu ignorieren, hat der Qualität seiner Aufsätze erkennbar gutgetan.
Am deutlichsten wird dies in seinen zahlreichen Beiträgen zu Carl Diem, dem Organisator der Olympischen Spiele von 1936. Sein Fall rief in der Forschung nicht nur erbitterte Kontroversen hervor, sondern hinterließ unter den beteiligten Kombattanten teilweise auch tiefsitzende persönliche Ressentiments. Teichlers Aufsätze zu diesem jahrzehntealten Streit sind schon deshalb lesenswert, weil sie Ambivalenzen herausarbeiten. Die wissenschaftliche Distanz zu seinen Themen handelte ihm mit Blick auf Diem in Teilen der Sporthistoriographie den Vorwurf der "Apologie" ein. [1] Denn vor allem Ralf Schäfer glaubte in Diems zahllosen Schriften neben Nationalismus und Militarismus auch Antisemitismus festgestellt zu haben. Auf der Grundlage solcher Thesen, die alles Gegenteilige in Diems Schaffen ausblendeten, wurde er sogar in das von Wolfgang Benz herausgegebene "Handbuch des Antisemitismus" aufgenommen, wo er nun in einer Reihe mit einschlägig bekannten Personen wie Houston Stewart Chamberlain, Joseph Goebbels und Mahmud Ahmadinedschad steht. [2] Im Grunde hätten Teichler und andere renommierte Historiker darauf weitaus gelassener reagieren können. Denn auch Benz wird nach seinem "Vergleich" zwischen "Judenfeindlichkeit" und "Islamfeindlichkeit" von einigen Wissenschaftlern und Publizisten als "Antisemit" bezeichnet. [3] Dies ist ebenso abwegig wie im Fall Diem und hinterlässt in der interessierten Öffentlichkeit nur einmal mehr den Eindruck, dass sich der Diskurs über Rassismus und Antisemitismus teilweise stark verirrt hat: Die Verwendung dieser Begriffe ist inzwischen inflationär geworden.
Teichler ist weit davon entfernt, Diems Biografie zu schönen oder sein Verhalten im 'Dritten Reich' zu relativieren. Aber im Gegensatz zu anderen Historikern verliert er sich nicht in einer Suche nach einzelnen Zitaten, mit denen versucht wird, den Nazi hinter der Person zu entlarven. Vielmehr gibt ihm zu denken, dass es Diem gelang, in vier verschiedenen politischen Systemen - im Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und schließlich in der jungen Bundesrepublik Deutschland - die Geschicke des bürgerlichen Sports in Deutschland mitzubestimmen. Dies wäre mit einem geschlossenen Weltbild, in dem Militarismus, Nationalismus und Antisemitismus angeblich die Grundpfeiler bildeten, kaum möglich gewesen.
Um solch erstaunliche Karrieren zu erklären, bemüht Teichler u.a. den Begriff "'Eigen-Sinn' des Sports" (511), der nicht mit der Vorstellung vom "unpolitischen Sport" zu verwechseln sei. Besonders plastisch illustriert er dies am Beispiel der DDR, in der Sportler und Funktionäre ihre Veranstaltungen gerne mit systemkonformen Parolen wie "Lauf zum Tag der Befreiung vom Faschismus" etikettierten, um erforderliche Genehmigungen leichter zu erhalten (512). Ohne zu übersehen, dass es auch überzeugte Ideologen gab, zeigen solche Beispiele, wie austauschbar für die allermeisten Athleten und Funktionäre politisch-weltanschauliche Ziele sind: Solange ihnen das jeweilige System optimale Voraussetzungen in Form von Trainingsmöglichkeiten, Ruhm und konkreten materiellen Vorteilen garantiert, ist es ihnen weitgehend gleichgültig, auf welcher politischen Sportbühne sie nach Siegen und Medaillen streben. Dabei üben Diktaturen oft eine besonders große Anziehungskraft aus, weil sie in der Regel weitaus leichter als rechtsstaatlich verfasste Demokratien die gewünschten Bedingungen herzustellen vermögen. Teichler lässt offen, ob angesichts dieser oft blinden Fixierung auf eigene Anliegen und des ständigen Rufs nach staatlicher Förderung sogar von einer "Instrumentalisierung der Politik durch den Sport" gesprochen werden könne (643). Indes wagt er die These, dass Politik mit Hilfe des Sports von fehlender Legitimation und eigenen Defiziten abzulenken versucht.
Sofern dies zutrifft, war dem SED-Regime von Anfang an bewusst, dass ihm ein ausreichender Rückhalt in der Bevölkerung fehlte. Denn wie Jutta Braun in ihrem neuen Buch über den Sport im geteilten Deutschland darlegt, trachtete es bereits vor der offiziellen Gründung der DDR danach, den Sport bis in die unterste Ebene hinein zu kontrollieren. Mehr noch: Während im Westen das Bemühen erkennbar war, die Unabhängigkeit des organisierten Sports zu respektieren, erblickte die SED darin eine hervorragende Möglichkeit, sich gegenüber dem sogenannten Klassenfeind als das vermeintlich überlegene System zu profilieren.
Braun zeichnet nach, wie die staatliche Leistungsförderung der DDR im Sport rasch zu einem erheblichen Vorsprung in den Medaillenbilanzen vor allem bei den prestigeträchtigen Olympischen Spielen führte. Der Ehrgeiz im "Wettkampf der Systeme" ging bekanntlich so weit, dass die DDR selbst vor systematischem Doping nicht zurückschreckte. In der Bundesrepublik wurde zwar auch gedopt. Doch im Gegensatz zur DDR ist bislang von staatlichen Anordnungen, illegale Substanzen zur Erhöhung des Erfolgs bei internationalen Veranstaltungen anzuwenden, nichts bekannt.
Das Buch beschreibt nicht nur die verbrecherischen Methoden des Staatsdopings in der DDR, sondern auch die perfiden Mittel und "persönliche[n] Grenzsituationen" (104), denen Sportlerinnen und Sportler seitens des SED-Regimes ausgesetzt waren: von staatlicher Überwachung über geheimdienstliche Interventionen in den privaten Beziehungen bis hin zu Gefängnisstrafen. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass bereits in den 1950er Jahren zahlreiche Akteure in den Westen flüchteten - für die DDR-Sportführung vor allem dann ein Alptraum, wenn sie von nun an ihre Fähigkeiten für den Sport in der Bundesrepublik einsetzten.
Die Überblicksdarstellung enthält viele weitere Aspekte des Themas wie die zahllosen Diskussionen über Boykotte und Sanktionen im grenzübergreifenden Sportverkehr, den Weg in die Sporteinheit und sogar ein Kapitel über den Umgang mit der Vergangenheit des Sports in den beiden deutschen Diktaturen. Angesichts des enorm weiten Terrains, das die Autorin sprachlich wie inhaltlich souverän durchschreitet, ist es naturgemäß schwer, eine Klammer zu finden, die ihre Darstellung zusammenhält: Zu facettenreich ist die Thematik, um sie in wenigen griffigen Thesen zusammenfassen zu können. Überdies ist der Blick stark auf die Entwicklungen in der DDR gerichtet, während die bundesrepublikanische Perspektive insgesamt etwas zu kurz kommt. Aber vielleicht trägt gerade dies dazu bei, der verbreiteten Ostalgie entgegenzuwirken: Jutta Brauns Buch schärft den Blick dafür, warum sich die oft als kapitalistisch kritisierte Ausprägung des Sports gegenüber der Variante des totalitären Sozialismus durchgesetzt hat.
Anmerkungen:
[1] Ralf Schäfer: Verdrängen und erinnern. Probleme im Umgang mit der NS-Vergangenheit des deutschen Sports am Beispiel von Carl Diem, in: Die Spiele gehen weiter. Profile und Perspektiven der Sportgeschichte, hgg. von Frank Becker / Ralf Schäfer, Frankfurt am Main / New York 2014, 143-169, hier 169.
[2] Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2 Personen/1. A-K, Berlin / Boston 2009, 171 f.
[3] Vgl. Mathias Brodkorb: Antisemitismusvorwurf gegen Wolfgang Benz. Die 'Kritische Theorie' frisst ihre Kinder, in: Juden in Deutschland - haGalil, 30. Januar 2010 (https://www.hagalil.com/2010/01/antisemitismus-6/, abgerufen am 6. September 2024).
Nils Havemann