Julia Becker / Isabel Kimpel / Jonas Narchi u.a. (Hgg.): (Er-)Leben von Spiritualität. Die fünf Sinne in religiösen Gemeinschaften des Mittelalters (= Klöster als Innovationslabore; Bd. 14), Regensburg: Schnell & Steiner 2024, 406 S., 31 Farb-, 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-3889-0, EUR 59,00
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Nur wenn man die zwei zentralen Begriffe im Buchtitel gut im Auge behält, wird man mit großem Profit diesen Sammelband benutzen können. Es geht um Spiritualität, wie sie in mittelalterlichen Klöstern sinnlich wahrgenommen wurde, dann aber auch um die fünf Sinne, was nicht unbedingt miteinander gleichzusetzen ist. Mit etwas Verwunderung könnte man sich sonst fragen, worum es einleitend Bernd Schneidmüller wirklich geht, der den Fokus ganz auf Spiritualität legt, während im weiteren Verlauf mehr die fünf Sinne zur Sprache kommen, die im klösterlichen Bereich Relevanz besaßen, weil durch sie das Erleben der göttlichen Erkenntnis angestrebt wurde.
Die Beiträge wurden zuerst auf einer Tagung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 14. bis 16. Juni 2023 als Vorträge präsentiert, aber das Gesamtkonzept geht auf ein Forschungsprojekt zurück, das unter der Leitung von Gert Melville, Stefan Weinfurter und Schneidmüller von 2010 bis 2024 geführt wurde, um mittelalterliche Klöster als "Innovationslabore" zu untersuchen. Hier ruht der Fokus ebenfalls auf dem Innenleben in monastischen Gemeinschaften, wo, wie sich deutlich abzeichnet, sinnliche Wahrnehmungen eine wesentliche Rolle spielten, um spirituelle Ziele zu erreichen. Grob formuliert handelt es sich zuerst um visuelle Eindrücke, um das Kloster als Klangraum, um olfaktorische Impressionen, dann kurz um gustatorische Erfahrungen bzw. das Moment des Verzichts (Fasten), um mit drei Aufsätzen zum haptischen Aspekt zu schließen.
In ihrer Einführung beschreiben die drei Herausgeber*innen die sehr bedenkenswerte Betonung des spirituellen Diskurses hinsichtlich der Sinneswahrnehmungen, womit sie gewissermaßen Kurzfassungen der einzelnen Aufsätze liefern. Michael Höffner bietet darauf eine Studie zur mittelalterlichen Suche nach der Spiritualität, einem Begriff, der erst in der Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts aus Frankreich nach Deutschland gelangte. Er beschränkt sich jedoch weitgehend auf das postmoderne Unbehagen an der säkularisierten Welt und somit auf das neue Streben nach einer geistig-spirituellen Dimension hinter der physischen, wie es etwa von Hans-Urs von Balthasar identifiziert und selbst praktiziert wurde. Ob dies ein passender Einstieg in die Analyse von Spiritualität und den fünf Sinnen in mittelalterlichen Klöstern sein mag, scheint mir recht fraglich zu sein.
Umso konkreter wird es dann in den folgenden Kapiteln, wo die Rolle der Sinneswahrnehmungen anhand von spezifischen Fällen in den Blick genommen wird. Jens Rüffer beginnt mit einer Behandlung der visuellen Wahrnehmung in einem zisterziensischen Kirchenraum, aber es dauert doch recht lange, bis er spezifische Daten liefert, indem er die Architektur und Ausstattung der Klosterkirche in Doberan diskutiert, was letztlich auf einen recht schlichten kunsthistorischen Ansatz hinausläuft. Wesentlich spezifischer gehen in dieser Hinsicht Vera Henkelmann und Falko Bornschein in einer Studie zum Licht im Erfurter Marienstift vor, die jüngst in der Mediaevistik 36 (2024) erschienen ist, während Rüffer nur bestätigt, was wir schon lange über zisterziensische Ästhetik gewusst haben.
Julia Becker und Isabel Kimpel konzentrieren sich auf die große Bedeutung der schlichten Klosterkleidung, die gemeinschaftsstiftend wirken sollte, was eigentlich bei jeder geschlossenen Gemeinschaft bis heute grundlegend ist (Uniformen etc.). Sie bieten jedoch viele relevante Zitate aus der Kirchengeschichte, die die mönchische Kleidung und natürlich auch Tonsur betreffen, was freilich nicht besonders erkenntniserhellend wirkt.
Erfreulich und trotzdem genauso schlicht wirkt die Arbeit von Julia Exarchos, die die entscheidende Rolle von Büchern (also Codices) in der Liturgie verfolgt, wobei aber ein Zitat von Augustinus allein alles schon gesagt hätte ("tolle, lege", Confessiones Kp. XII). Man kann aber nur zustimmen, dass prachtvoll illustrierte oder andere Manuskripte "eine Materialisierung des Wortes Gottes" darstellten (129). Markus Enders verfolgt darauf die Frage, wie in der Patristik und in der mystischen Theologie des Mittelalters die Wahrnehmung Gottes beschrieben wurde, also von Angesicht zu Angesicht, aber er konzentriert sich vor allem auf Bernhard von Clairvaux und Meister Eckhart und ignoriert weitgehend die berühmten Mystikerinnen, deren Aussagen viel wesentlicher gewesen wären (z.B. Hildegard von Bingen!).
Im nächsten Abschnitt beginnt Stefan Morent damit, seine Forschungen zur Klangerprobung in mittelalterlichen Kirchenräumen, hier besonders von Cluny und St. Gallen (theoretisch), dann auch von Maulbronn, vorzustellen und die Kommentare der Zeitgenossen über die architektonischen Ausmaße von Cluny zu bearbeiten. Dem schließt sich passend Nikolaus Jasperts Arbeit über die Beurteilung des Glockenklangs in mittelalterlichen Klöstern an, der nicht unwesentlich zum Herrschaftsanspruch der Kirche gehörte. Allerdings hebt er auch hervor, dass im Spätmittelalter der städtische Raum akustisch stark umkämpft war, was zu strengen Regelungen führte, wann welche Glocken geläutet werden durften. Selbst Nonnen drückten, wie Jaspert zu Recht hervorhebt, mittels ihrer Glocken deutlich aus, wie sehr sie zur städtischen Gemeinde gehörten und ihre eigene Stellung behaupten durften. Nicht von ungefähr kam es in religiösen Kontaktzonen zum Islam zur scharfen Konkurrenz im akustischen Raum, nämlich von Glocken gegen den Gebetsruf des Muezzin, den Adhān.
Mit am interessantesten erscheint mir der Aufsatz von Mirko Breitenstein, in dem es um die Rolle des klösterlichen Schweigens geht, das keineswegs unwidersprochen war, weil sich dadurch mancherlei psychische Konflikte verbergen ließen oder, wie es Hildegard von Bingen formulierte, totales Schweigen für den Menschen unnatürlich sei (206). Im Schweigen richtet sich die Aufmerksamkeit ganz auf das Ich, während das religiöse Wort den Nächsten erreichen konnte (Hugo von St. Viktor), aber selbst Schweigen ließ sich in unterschiedlicher Weise praktizieren.
In der Folge geht es um die olfaktorische Wahrnehmung etwa des Teufels, wie sie Hannah Michel behandelt, die besonders auf die Mirakelberichte des Caesarius von Heisterbach eingeht. Hinzufügen möchte ich noch das Beispiel von "Gongolf" der Hrotsvit von Gandersheim, wo die mörderische Ehefrau für ihre Blasphemie am Grabe ihres Mannes dadurch bestraft wird, dass sie jedes Mal, wenn sie den Mund aufmacht, um etwas zu sagen, einen stinkenden Wind von sich geben muss. Gemeinhin aber geben sich der Teufel oder Dämonen durch ihren üblen Gestank zu erkennen.
Barbara Baert behandelt (auf Englisch) die spätmittelalterlichen Kunstwerke, genannt "Horti Conclusi", also mit Blumen oder Schmuck verzierte Objekte, die wie ein Garten aussahen und Nonnen als Meditationsmittel dienten, was aber weniger mit den Sinnen zu tun hat, sondern doch eher auf die Suche nach Spiritualität im Kunstobjekt verweist. Diese 'Gärten' dienten den Nonnen vor allem im frühneuzeitlichen Holland als Medium, um über Jungfräulichkeit, Reinheit und Unbeflecktheit zu reflektieren und sich virtuell auf eine Pilgerschaft zu begeben. So interessant dies auch sein mag, so wenig passt jedoch diese Studie in den vorliegenden Band.
Die letzte Gruppe eröffnet Julia Burkhardt mit einer Studie über das Konzept des Essensverzichts, was für das klösterliche Leben sehr bestimmend war, auch wenn dies oft nur metaphorisch verstanden wurde. Aber in der Bursfelder Kongregation, auf der hier das Augenmerk liegt, wurde Askese ganz bewusst in den klösterlichen Alltag integriert. Insbesondere in dem Handbuch Liber de triplici regione des Sponheimer Abtes Johannes Trithemius, das großen Erfolg erlebte, kam dieses Ideal konkret zum Ausdruck.
Jonas Narchi hebt hervor, wie stark gerade unter den Kartäusern mittels der Vorstellung von dem süßen Geschmack, der durch spirituelle Kontemplation herbeigeführt wurde, das körperliche Leiden durch Essensentzug kompensiert wurde. Der Geschmackssinn diente mithin als wesentliche Metapher für die geistige Erfahrung, so etwa wenn der Gläubige "aus Gottes Brust Milch (und Honig)" trank (306) oder seine Mönchszelle als Paradies beschrieb. Es bleibt aber doch etwas vage, inwieweit hier wirklich gustatorische Erlebnisse zum Zuge kommen, belegen ja die Zitate primär, wie sehr spirituelle Handlungen bildlich gefasst wurden, was wiederum wenig mit Essen selbst zu tun hat.
Zuletzt geht es um die haptische Erfahrung, die zunächst Zuleike Murat (auf Englisch) anhand der sogenannten 'Handwärmer' für den "evesque" behandelt, dessen Hände warm bleiben sollten, um bei der Berührung eines kranken Körperteils mirakulöse Heilungen zu bewirken (zuerst belegt seit 1214). Hilfreich wäre hier u.a. auch die Berücksichtigung der "touche royale" gewesen, wobei thaumaturgische Kräfte vermeintlich oder real zum Tagen kamen. Die Handwärmer reflektierten die Vorstellung, dass durch die Hitze eine direkte Verbindung mit Gott hergestellt werden konnte, was im liturgischen Ritual möglich sein sollte. Einige dieser Objekte wurden offensichtlich auch dafür benutzt, um Weihrauch oder Parfüm herzustellen, was dazu diente, eine Verbindung zwischen weltlicher und paradiesischer Liturgie aufzubauen.
Jörg Sonntag geht auf die Spannungen im Klosterleben ein, wo zwar streng darauf geachtet wurde, jeglichen Körperkontakt zu vermeiden, was ja immer zur Sünde führen konnte, wo aber zugleich rituell oftmals kollektiv Rasuren, Fußwaschungen und dergleichen vollzogen wurden, auch wenn durch körperliche Nacktheit Gefahr für die reine Seele drohte. Dies kulminierte vor allem in der Abschiednahme von einem Sterbenden, den jedes Klostermitglied küssen und am Kopf berühren musste, was alles jedoch nur unter strenger Aufsicht vonstattenging.
Zuletzt bietet Axel Michaels eine Studie über Verzehrpraktiken in Indien, die einem exakten Ritual folgten. Das höchste Ziel bestand, wie der Autor hervorhebt, letztlich darin, sich aus dem Kreislauf der ständigen Wiedergeburt zu befreien, was nur dadurch möglich war, dass man nichts mehr machte, dachte, roch, schmeckte oder hörte.
Dieser sorgfältig edierte Sammelband schließt mit einem Abbildungsverzeichnis - alle farbigen Bilder sind von hoher Qualität - , einem Namens- und einem Ortsregister. Ein Sachregister hätte sich eigentlich doch angeboten und wäre sehr nützlich gewesen. Die Zahl typographischer Fehler ist extrem niedrig, das wissenschaftliche Niveau ist hoch, aber mitunter passen die Studien thematisch nicht so recht zueinander. Einerseits soll es um Spiritualität gehen, andererseits um sinnliche Hinwendungen zu genau dieser, wobei der notwendige Spagat gelegentlich nicht recht gelingt. Gleichwohl ist dieser Band als wertvolle Reflexion weitreichender Forschungen anzusehen. Leider gibt es keine biographischen Hinweise zu den Beitragenden.
Albrecht Classen