Rezension über:

Mark Wilcox: The Treaty on Conventional Armed Forces in Europe. Russian Foreign and Security Policy, from the End of the USSR to the War in Ukraine (= De Gruyter Studies in Military History; Vol. 9), Berlin: De Gruyter 2023, XVI + 314 S., 3 Farb-, 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-133200-0, EUR 89,95
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Rezension von:
Wilfried von Bredow
Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Wilfried von Bredow: Rezension von: Mark Wilcox: The Treaty on Conventional Armed Forces in Europe. Russian Foreign and Security Policy, from the End of the USSR to the War in Ukraine, Berlin: De Gruyter 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 2 [15.02.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/02/39179.html


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Mark Wilcox: The Treaty on Conventional Armed Forces in Europe

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Die rüstungskontrollpolitischen Anstöße aus den Jahren relativer Entspannung im Ost-West-Konflikt bekamen 1989/90 neuen Schwung. So entstanden Abkommen zwischen den ehemaligen Antagonisten, die auf Reduzierung der Anzahl der Waffen, gegenseitige Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen setzten - für den Bereich der Nuklearwaffen samt ihren weitreichenden Trägersysteme wie für den der konventionellen Rüstung. Im Zusammenhang mit der Aushandlung des 2 + 4-Vertrags über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und den Kooperations-Perspektiven der KSZE entstand 1990 zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag). Er sah vor, die Zahl der Kampfpanzer, gepanzerten Kampffahrzeuge, Artilleriewaffen, Kampfflugzeuge sowie Angriffshubschrauber auf bestimmte Höchstwerte zu reduzieren und dabei Ungleichgewichte zwischen den Militärbündnissen zu beseitigen.

Als der KSE-Vertrag 1992 in Kraft trat, gab es allerdings den Warschauer Pakt nicht mehr. Auch die Sowjetunion hatte sich bereits aufgelöst. Dadurch wurde das, was vorher ziemlich eindeutig als Ungleichgewicht der konventionellen Rüstung identifizierbar war, erheblich schwieriger messbar. Auch begannen die Messkriterien von Russland, dem größten Nachfolgestaat der UdSSR, sich mehr und mehr von denen der NATO zu unterscheiden. Die Kooperationsvision Gorbatschows und Schewardnadses von einem "gemeinsamen europäischen Haus" verlor rasch den Boden unter den Füßen. Es ist bemerkenswert und nicht nur aus der Sicht von Friedensforschern als ein Erfolg des Vertrags zu bewerten, dass seine Bestimmungen immerhin zur verifizierten Unbrauchbarmachung von mehr als 50.000 Waffensystemen geführt haben. Überprüfungs- und Anpassungsmaßnahmen an die neuen geopolitischen Konstellationen gegen Ende der 1990er Jahre vermochten aber nicht, den Vertrag zu retten. 2007 setzte Russland die Umsetzung weitergehender Reduktionsbestimmungen des KSE-Vertrages aus; 2023 vollzog es seinen Austritt. Als Reaktion darauf vereinbarten die NATO-Staaten das - vorläufige - Ende des Vertrages. Auch andere Rüstungskontrollabkommen wurden inzwischen gekündigt und sind ausgelaufen, etwa 2019 der gerade für Europa besonders relevante Vertrag über nukleare Mittelstrecken-Systeme.

Die spannende Studie von Mark Wilcox, derzeit Professor am United States Army Command and General Staff College in Fort Leavenworth, untersucht die Beweggründe der sowjetisch/russischen Führung für den Wandel ihrer Einstellung zum KSE-Vertrag von seiner nachdrücklichen Unterstützung in den frühen 1990er Jahren bis zur Aufkündigung 2023. Der Text ist chronologisch in sechs Kapitel untergliedert. Der Autor analysiert darin anhand sowjetischer beziehungsweise russischer Quellen die Entwicklung der außen- und sicherheitspolitischen sowie militärstrategischen Prioritäten Moskaus und ihren Einfluss auf das Schicksal des KSE-Vertrags. Unter Gorbatschow sollte der Vertrag dabei helfen, mögliche negativen Folgen der Auflösung des Warschauer Paktes und der Vereinigung Deutschlands für die Sicherheit der UdSSR zu neutralisieren. Von der Reduktion der konventionellen Rüstung versprach er sich zudem ökonomische Entlastungen. Hoffnungen auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem mit dem Nebenziel der Lockerung der transatlantischen Beziehungen erwiesen sich indes als auf Sand gebaut. Aus sowjetischer beziehungsweise russischer Perspektive gab es allerdings auch von Anfang an gewichtige Problembereiche des im Juli 1992, also ein halbes Jahr nach der Auflösung der UdSSR, ratifizierten Vertrages. Dazu zählten der Status landgestützter Marineflugzeuge, die Einbeziehung oder Nicht-Einbeziehung der Flankengebiete (am nördlichen und südlichen Rand des von der Atlantikküste bis zum Ural reichenden Reduzierungsgebiets) und Uneinigkeit über die erlaubte Höchstgrenze bei bestimmten Waffensystemen (sufficiency rule). Den russischen Streitkräften schmeckten die Vertragsbestimmungen sowieso nicht.

In den ersten (und im Sinne des Vertrags bis etwa 1996/97 durchaus erfolgreichen) Jahren nach seinem Inkrafttreten veränderte sich die großregionale Lage in Europa deutlich zu Ungunsten Russlands als dem entscheidenden Nachfolgestaat der UdSSR. Die deshalb auch aus westlicher Sicht unabdingbare Anpassung der Vertragsbestimmungen fand im November 1999 auf dem Gipfel der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Istanbul statt - noch weitgehend einvernehmlich. Aber für Moskau war das Ergebnis doch enttäuschend. Wilcox beschreibt akribisch, wie die russische Führung die rüstungskontrollpolitischen Bestimmungen immer mehr als Behinderung ihrer Interessen ansah. Vorgänge wie der NATO-Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten Polen, Ungarn und Tschechien (1999) und eine weitere Beitrittswelle 2004 sowie die nicht anerkannten russischen Mitsprache-Ansprüche für Georgien, Moldawien und die Ukraine verstärkten das russische Selbstbild, vom Westen nicht mehr als Großmacht akzeptiert zu werden. Anfang 2007 scheint in Moskau die Entscheidung gefallen zu sein, den KSE-Vertrag wegen seiner nunmehr als überwiegend unerwünscht angesehenen Aspekte auszusetzen. In diesem Zusammenhang weist Wilcox zu Recht auf den "almost mythical status" der Rede von Präsident Putin vor der Münchner Sicherheitskonferenz am 10. Februar 2007 hin (219).

Zusammenfassend stellt der Autor fest, dass die Abwägung der Vor- und Nachteile des KSE-Vertrags aus Moskauer Sicht immer eine abhängige Variable der eigenen Außen- und Sicherheitspolitik war. Entscheidende Faktoren für die russische Umwertung des Vertrags ins Negative waren nach Wilcox neben der NATO-Erweiterung die Veränderungen im als unantastbare Einflusssphäre betrachteten "near abroad", die Konsolidierung der internen Situation nach dem Ende der Jelzin-Präsidentschaft und das Gewicht des Militärapparats. Als der Sowjetsozialismus unterging, erschien eine Vertiefung der Ost-West-Kooperation naheliegend und realistisch. Dafür standen Gorbatschow und, mit Abstrichen, Jelzin. In den Jahren der Präsidenten Putin/Medwedjew/Putin wurde aus den Abstrichen Ablehnung. Für Putin gilt der Kollaps der UdSSR als "the greatest geopolitical catastrophe of the twentieth century". (264) Diese Weltsicht wurde spätestes 2007 zur Grundlage der russischen Politik. Aus dem Westen wurde so statt eines Kooperationspartners ein weltpolitischer Feind.

Der Autor hat eine biografische Verbindung zum KSE-Vertrag, denn er gehörte von 1995 bis 2002 der amerikanischen Delegation der OSZE in Wien an. Wenn eine kühle und systematische Analyse angestrebt wird, kann die sozusagen subjektive Aufwärmung der Thematik manchmal stören. Das ist hier jedoch eindeutig nicht so. Aufbau, Gliederung, Vorgehensweise und Quellenauslegung erlauben klare Argumentationen und bestechen durch einen hohen Grad an Plausibilität und Transparenz. Nützliche Ergänzungen des Textes sind Anhänge mit Zahlenmaterial zur Rüstungsreduktion sowie ein gemischtes Namens- und Sachregister.

Wilfried von Bredow