Christoph Jünke (Hg.): Viktor Agartz oder: Ein Leben für und wider die Wirtschaftsdemokratie (= Biographische Miniaturen), Berlin: Karl Dietz 2024, 222 S., ISBN 978-3-320-02422-2, EUR 14,00
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Viktor Agartz' Aufstieg und Fall sind eng mit der Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie verwoben. Es waren diese Organisationen, die ihn politisch sozialisierten, die ihm zu Ruhm verhalfen, die ihn sukzessive fallenließen und von denen er sich verbittert abwandte. Danach geriet er weitgehend in Vergessenheit. Umso verdienstvoller ist es, dass der Bochumer Historiker und Publizist Christoph Jünke wichtige Reden und Schriften des Verfemten zu dessen 60. Todestag erneut publiziert hat. Denn Agartz' Überlegungen zur Neuordnung der deutschen Nachkriegsökonomie und zur Ausgestaltung einer sozialistischen Marktwirtschaft können auch angesichts der aktuellen Diskussionen über eine "sozialökologische Transformation" von Staat und Gesellschaft sowie für innergewerkschaftliche Diskussionen aufschlussreich sein.
Die instruktive Einleitung des Herausgebers umreißt Agartz' Lebensweg und ordnet seine Texte vor dem Hintergrund einer diffusen antikapitalistischen Grundstimmung im zerstörten Nachkriegsdeutschland ein. Im Vordergrund steht Agartz' Versuch, die gegen Ende der Weimarer Republik von Fritz Naphtali und anderen konzipierte Wirtschaftsdemokratie in Form einer "Wirtschaftsneuordnungspolitik" weiterzudenken (24). Christoph Jünke stellt die in der Zeitgeschichte vorherrschende Deutung infrage, die reorganisierten Gewerkschaften hätten nach 1945 versucht, an jene Wirtschaftsdemokratie anzuknüpfen. Wer die acht bereits veröffentlichten Texte aus den Jahren 1945 bis 1959 am Stück liest, bekommt einen tiefgreifenden Einblick in die gesellschafts-, gewerkschafts- und wirtschaftspolitischen Kontroversen der Nachkriegszeit.
Restauration der alten Besitz- und Machtverhältnisse oder sozialistischer Neuanfang jenseits des Parteikommunismus - auf diese Formel lassen sich die Kämpfe um Hegemonie in den drei westlichen Besatzungszonen verkürzt bringen. Agartz wollte eine Zeitenwende. Unterstützt von Kurt Schumacher und Hans Böckler, die 1946 den britischen Besatzungsbehörden vorschlugen, Agartz zum Leiter des Mindener Zentralamtes für Wirtschaft und damit quasi zum Wirtschaftsminister der britischen Besatzungszone zu ernennen, gelang es ihm zunächst, die programmatische Deutungshoheit innerhalb der Gewerkschaften zu erlangen. Als antifaschistischer Wirtschafts- und Verwaltungsfachmann, der den Nationalsozialismus überlebt hatte, war er der Mann der Stunde. Laut Jünke wollte Agartz verhindern, dass sich die alten Eliten wieder ihrer Machtpositionen in Wirtschaft und Verwaltung bemächtigten.
Deswegen plädierte er dafür, "wesentliche Teile der Groß- und Grundstoffindustrien, der Versorgungs- und Verkehrswirtschaft wie des landwirtschaftlichen Großgrundbesitzes zu sozialisieren" und unter die Kontrolle von paritätisch besetzten und "dezentralisiert organisierten, wirtschaftlichen Selbstverwaltungsorganen" zu stellen (24). In "Sozialistische Wirtschaftspolitik" (1946) brachte er die Konzeption einer sozialistischen Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen auf den Punkt: "In der sozialistischen Planwirtschaft sieht die SPD nicht einen Selbstzweck. Sie fordert daher die Beschränkung der staatlichen Eingriffe auf das jeweils erforderliche Maß [...]. Unter Einbau marktwirtschaftlicher Elemente des Wettbewerbs muss die Planung unbeschadet ihres umfassenden Charakters mehr und mehr zu den Methoden der indirekten Lenkung übergehen [...]. Die weitgehend dezentralisierte Planungs- und Lenkungsarbeit muss dabei immer von unten nach oben gehen. Dabei sind die Bedürfnisse und Erfahrungen der einzelnen Landschaften und örtlichen Wirtschaftsbezirke ausreichend zu berücksichtigen." (84)
Diese - theoretisch fundierten - staatlichen Eingriffsmöglichkeiten gingen vielen zu weit. Vor dem Hintergrund des eskalierenden Kalten Krieges, der Integration von SPD und Gewerkschaften in das politisch-ökonomische System der Bundesrepublik sowie der Wachstums- und Wohlstanderfolge der sozialen Marktwirtschaft formierte sich auch innerparteilicher und -gewerkschaftlicher Widerstand gegen Agartz' "Wirtschaftsneuordnungspolitik". Sein Scheitern auf politischer und gewerkschaftlicher Bühne war deshalb absehbar. Zwar berief ihn der DGB-Vorsitzende Hans Böckler 1948 zum Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB (WWI). Doch durch dessen überraschenden Tod im Zuge der aufreibenden Kämpfe um die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie 1951 verlor Agartz einen mächtigen Fürsprecher. Der mit dem Montanmitbestimmungsgesetz verbundene Klassenkompromiss zementierte auch die Macht der unternehmerischen Eliten.
Agartz' Beharren auf grundlegende Eingriffe in die Wirtschafts- und Sozialordnung während der gewerkschaftlichen Programmdebatten, die sich beispielsweise in "Wider die Mitbestimmung als Ersatzlehre" nachlesen lassen, zeigt, dass ihm die mühsam erkämpfte paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie nicht ausreichte. Sie sei nur ein Bestandteil der Neuordnung und keine Partnerschaft von Arbeit und Kapital, wie sie die Gewerkschaften bis in die Gegenwart deuten. Zwar dringe die betriebliche Mitbestimmung nicht in das Eigentum ein, "aber in Funktionen, die das Eigentum bislang für sich allein reklamierte" (151). Die "Stringenz und Radikalität seiner Neuordnungsvorstellungen", so Jünke, gingen dem DGB letztlich zu weit (47). Das zeigt sich auch in Agartz' Text "Die Mitbestimmung in der Sackgasse" vom September 1956, in dem der inzwischen geschasste vormalige DGB-Chefökonom schonungslos den Mitbestimmungskompromiss in der Montanindustrie als "Niederlage" für eine weitergehende Demokratisierung der Wirtschaft deutete. Das 1952 geschaffene Betriebsverfassungsgesetz habe mit der ursprünglichen gewerkschaftlichen Forderung nach Mitbestimmung nichts mehr gemein. Schließlich sei das Repräsentationsrecht der Gewerkschaften durch die erzwungene Betriebsgemeinschaft, die nunmehr die Betriebsräte mit den Unternehmensrepräsentanten eingehen müssten, ad absurdum geführt worden.
Diese Kritik tritt im letzten Text, "Die Integration der Gewerkschaften" von 1959, verschärft hervor. Darin verwies Agartz auf die Funktion der Gewerkschaften als "kämpferische Organisationen", die sie durch ihre Systemintegration zunehmend zu verlieren drohten. An die Stelle des kämpfenden Gewerkschaftssekretärs, wie ihn in seinen Augen Böckler noch verkörperte, trete der Typus des Berufsspezialisten, der gegenüber der urteilsunfähigen Masse an Mitgliedern um seine "Anerkennung als Bürokrat" zu ringen habe. "Soweit er aus eigener Existenzsicherung gezwungen ist", polemisierte Agartz weiter, "gelegentlich gewerkschaftlich aktiv zu sein, führt er diesen Kampf auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft, nicht gegen sie" (202 f.).
Festzuhalten bleibt, dass die Lektüre von Agartz' Texten einer Zeitreise gleicht, die anregt, sich mehr mit den gewerkschafts- und wirtschaftspolitischen Debatten zu beschäftigen. Das gilt insbesondere für die politische Bildungsarbeit. Die Linie, die Agartz vertrat, ist an den damaligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, aber auch am Verhalten der DGB-Gewerkschaften gescheitert. Eigene Fehler, auf die Jünke einleitend hinweist, haben Agartz' unrühmliches Ende beschleunigt - er verlor seinen Posten als WWI-Chef und seine Gewerkschaftsmitgliedschaft, und kein Geringerer als Herbert Wehner schloss ihn am 15. Dezember 1958 aus der SPD aus (vgl. das auf 69 abgedruckte Schreiben). Man darf gespannt sein, ob Jünke, der seit längerem an einer umfangreicheren Biografie zu Agartz arbeitet, ein Gesamtbild gelingt. Die vorliegende Aufsatzsammlung ist ein Baustein dazu. Der Anhang mit wichtigen biografischen Daten, Personenregister und einer Bibliografie der Veröffentlichungen von und über Agartz rundet den Band ab. Auch das kommt dem Leser zugute.
Jens Becker