Siegfried Mielke / Stefan Heinz: Alwin Brandes (1866-1949). Oppositioneller - Reformer - Widerstandskämpfer (= Gewerkschafter im Nationalsozialismus. Verfolgung - Widerstand - Emigration; Bd. 9), Berlin: Metropol 2019, 560 S., ISBN 978-3-86331-486-6, EUR 29,00
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Wer war oder für was stand Alwin Brandes? War er, wie die Autoren fragen, ein "charismatischer Arbeiterführer", oder ein "arbeitsfreudiger, gutmütiger" Gewerkschaftsführer (13, 493). Diesen Leitfragen versuchen die beiden Politikwissenschaftler und Historiker Siegfried Mielke und Stefan Heinz in ihrer umfangreichen Biografie nachzugehen. Sie zeigen, dass Brandes insbesondere als Vorsitzender des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) 1919 bis 1933 und gewerkschaftlicher Chefnetzwerker im Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine Schlüsselrolle zukommt, die nur wenige Zeitgenossen zu würdigen wissen.
Dabei war sein Weg in die Arbeiterbewegung keineswegs vorprogrammiert. 1886 im sächsischen Groß-Schönau als Sohn eines Schlosserhandwerkers geboren, erfolgte seine Hinwendung zur Gewerkschaftsbewegung weniger durch Impulse aus dem Elternhaus als aufgrund der harten Ausbildung zum Schlosser. In dem schmalen, aber instruktiven Kapitel zur politischen Sozialisation, das die Hochzeit mit Minna Brandes, die Geburt der beiden Kinder, die berufliche Wanderschaft, die Militärzeit und den Eintritt in den "Arbeiterverein meines Wohnbezirks" im Jahr 1890 umreißt, werden Grundzüge seines Charakters deutlich: der Wille zum sozialen Aufstieg und ein enormer Einsatz zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse.
Das knappe dritte Kapitel arbeitet Brandes Aufstieg in Magdeburg 1900 bis 1918 heraus. Nach seiner Wahl zum Geschäftsführer gelang es ihm, eine der "mustergültigsten" Verwaltungsstellen des DMV im Kaiserreich aufzubauen. Aufschlussreich ist auch Brandes Engagement als SPD-Stadtverordneter. Einmal mehr wird klar, wie intransigent das politische Klima zwischen SPD und bürgerlich-monarchistischen Parteien auf lokalpolitischer Ebene war. Gleichwohl errang die SPD auch Erfolge, etwa bei der Schaffung eines kommunalen Wohnungsamts, an denen Brandes beteiligt war. Für die politische Positionierung bedeutend war Brandes Austritt aus der SPD und sein Übertritt in die USPD im Dezember 1917. Der Magdeburger DMV war damit auch ein Eckpfeiler der USPD, die Streiks gegen die Fortführung des Ersten Weltkriegs unterstützte.
Auf einer breiteren Quellengrundlage basiert das vierte Kapitel, das unter anderem die Novemberrevolution 1918/19, Brandes Rolle als Vorsitzender des Magdeburger Arbeiter- und Soldatenrates und seine Verhaftung wegen "Hochverrats" thematisiert. Letzteres geschah auf Anordnung von Reichswehrminister Gustav Noske (SPD). Sie war der Kulminationspunkt der Konflikte zwischen SPD und USPD in Magdeburg. Zu diesem Zeitpunkt stand Brandes hinter der Parole "Durchführung des Sozialismus mit Hilfe des Rätesystems" (116). Er modifizierte diese Position aber im Zuge der Auseinandersetzungen um das Betriebsrätegesetz und der Frage, welche Bedeutung den Gewerkschaften in den Betrieben zugemessen werde.
Pointiert schildern die Autoren den Antagonismus zwischen dem von Richard Müller geführten linksradikalen Flügel und dem von Brandes, Robert Dißmann und anderen repräsentierten gemäßigten Flügel innerhalb der USPD. Folgerichtig spaltete sich 1920 die USPD. Während ein Großteil des linken Flügels mit der KPD fusionierte, traten Brandes und andere Gemäßigte wieder der SPD bei. Hier - und in anderen Kapiteln - greifen die Autoren überraschend häufig auf einschlägige Sekundärliteratur zurück, fassen diese zusammen oder zitieren daraus.
Nach dem Tod des charismatischen Mitvorsitzenden Dißmann 1926 erreichte Brandes den Zenit seiner Laufbahn. Mit 1.301.136 Mitgliedern 1919 war der DMV die wichtigste Mitgliederorganisation des sozialdemokratisch orientierten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die Kapitel fünf bis sieben schildern unterschiedliche Stationen seiner politischen Biografie: Brandes als Vorsitzender des DMV 1919 bis 1933, als Abgeordneter des Reichstags und des "Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik", Brandes Aktivitäten auf internationaler Ebene, zur Frauenfrage im DMV etc.
Einen breiten Raum nimmt sein Kampf gegen die sogenannte RGO-Politik der KPD ein. Bereits Ende der 1920er Jahre setzten Brandes und andere sozialdemokratische Gewerkschafter Kommunismus und Nationalsozialismus gleich (205ff., 215) und lehnten damit jegliche Versuche, eine Einheitsfrontpolitik der Arbeiterorganisationen im Kampf gegen den Nationalsozialismus und seine reaktionären Verbündeten zu bilden, ab. [1] Die teils erbittert geführten Auseinandersetzungen mit kommunistischen Gewerkschaftern in und außerhalb des DMV - vor allem im Berliner DMV-Bezirk - vertieften Brandes antikommunistische Haltung und hielten auch nach 1945 an, als er sich gegen die Zwangsvereinigungs- und Gleichschaltungspolitik seitens der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED abzugrenzen suchte.
Deutlich wird auch, dass die Doppelkrise der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre, die Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit einerseits, der "Erosionsprozess demokratischer Politik" durch die präsidialen Notverordnungen andererseits (303), die Gewerkschaften nahezu handlungsunfähig machte. Der DMV stand ab 1931 mit dem Rücken zur Wand, die von Brandes auch als SPD-Abgeordneter mitgetragene Tolerierungspolitik gegenüber der Regierung Brüning erwies sich als Irrweg. Abwehrstreiks gegen Aussperrrungen oder Lohnkürzungen der an Macht gewinnenden Arbeitgeber waren kaum noch möglich, deren Bruch von Tarifvereinbarungen und die geringe Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen durch die staatliche Schlichtung, verstärkten die Ohnmacht des DMV.
Schienen viele sozialdemokratische Gewerkschaftsfunktionäre - darunter auch Brandes - in den Jahren 1930 bis 1933 orientierungslos zu lavieren, besannen sich einige nach der Zerschlagung ihrer Organisationen am 1. Mai 1933 auf ihre Kampftugenden. Zweimal wurde Alwin Brandes verhaftet, 1935 wurde er einige Monate in das KZ Sachsenburg eingeliefert, wo der 69-jährige zeitweise im Steinbruch schuften musste. Nachdem ihn der Volksgerichtshof 1937 aus Mangel an Beweisen freigesprochen hatte, setzte er seine Koordinierungsarbeit für den freigewerkschaftlichen Widerstand fort.
Auf nahezu 150 Seiten breiten die Autoren das gewerkschaftliche Widerstandsnetzwerk aus. Untersucht werden regionale DMV-Widerstandsgruppen, ehemalige Verbandsbezirke mit Kontakten zu Alwin Brandes, die Aktivitäten des reichsweiten Widerstandnetzwerkes und die Verbindungen zu ausländischen Metallgewerkschaften. Die Kontakte von Alwin Brandes und anderen sozialdemokratischen Gewerkschaftern zu Wilhelm Leuschner, Jakob Kaiser und anderen Akteuren im Umfeld der konservativ-militärischen Opposition des 20. Juli bleiben ungeklärt (456). Hierzu wären weitere Forschungen wünschenswert. Die Autoren handeln diesen Part auf knapp vier Seiten ab.
Das Schlusskapitel skizziert Brandes Engagement gegen eine zentralistische Einheitsgewerkschaft und -partei in der sowjetischen Besatzungszone. Pointiert formuliert, blieb er bis zu seinem Tod 1949 seiner antikommunistischen Haltung treu und versuchte, versehen mit dem Nimbus des antifaschistischen Widerstandskämpfers, die wenigen Spielräume für eine sozialdemokratische Gewerkschaftspolitik zu nutzen.
Mit ihrer politischen Biografie über Alwin Brandes schließen Siegfried Mielke und Stefan Heinz eine Forschungslücke. Umfassend würdigen sie das arbeits- und entbehrungsreiche Engagement eines Gewerkschafters aus Überzeugung. Freilich tritt das Privatleben des Protagonisten hinter dessen politischer und beruflicher Arbeit zurück. Wie in vielen anderen Arbeiterbiografien erfährt man über den "Menschen" Brandes wenig.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu Henryk Skrzypczak: Kanzlerwechsel und Einheitsfront. Abwehrreaktionen der Arbeiterbewegung auf die Machtübergabe an Franz von Papen, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz (IWK) 18 (1982), 482-499.
Jens Becker