Andreas Nachama / Julius H. Schoeps / Hermann Simon (Hgg.): Juden in Berlin, Berlin: Henschel 2001, 264 S., ISBN 978-3-89487-336-3, EUR 25,00
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Friedrich Beck / Julius H. Schoeps (Hgg.): Der Soldatenkönig. Friedrich Wilhelm I. in seiner Zeit. Unter Mitarbeit von Thomas Gerber und Marco Zabel, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2003
Steffen Höhne / Anna-Dorothea Ludewig / Julius H. Schoeps (Hgg.): Max Brod (1884-1968). Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Die Geschichte der Juden in Berlin war in ihren verschiedenen Facetten schon häufig Thema der historischen Forschung. Dies hängt mit der Bedeutung Berlins für die moderne jüdische und allgemeine Geschichte zusammen, die es bis zur Auslöschung durch den Nationalsozialismus spielte. Heute ist das wiedervereinigte Berlin wieder ein Zentrum jüdischen Lebens im Werden, wenn auch ohne Kontinuität zu vorangegangenen Epochen.
Gegenstand des zu besprechenden Buches ist diese Geschichte vom hohen Mittelalter bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts, der in sechs chronologischen, im Umfang etwa gleich gewichteten Beiträgen nachgegangen wird. Der reich illustrierte, auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtende "Bild-Text-Band [...] ist für alle da", wie es im Vorwort heißt (8), versteht sich also als populärwissenschaftliche Überblicksdarstellung. Das Vorhaben, auf 260 Seiten gut 600 Jahre Geschichte unterzubringen, musste die Autoren zwangsläufig zu Beschränkungen innerhalb des umfangreichen Themas führen. Abgerundet wird der Band von einer tabellarischen Chronik sowie einer Auswahlbibliografie.
Der Beitrag von Claudia-Ann Flumenbaum ist der längsten Epoche gewidmet, der Zeit von der ersten Erwähnung von Juden in Berlin Ende des 13. Jahrhunderts bis zum Jahre 1789 (9-52). Auf wenigen Seiten wird der Bogen von der Ersterwähnung von Juden in Spandau 1244 bis zur Ausweisung aller märkischen Juden 1571 gespannt. Im Vordergrund stehen die wirtschaftlichen Aspekte jüdischen Lebens, vor allem der Entwicklung des jüdischen Handels wie der Pfandleihe und dem Fleischerhandwerk. In Berlin-Cölln konnte sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts eine kleine Gemeinde entwickeln, die Verhältnisse unterschieden sich hier nur wenig von denen im übrigen Reich. Dies gilt auch für die zumeist mit ökonomischen Momenten verknüpften Verfolgungs- und Vertreibungsaktionen durch die Landes- oder Stadtobrigkeiten. Der 'Hostienschändungsprozess' von 1510, das Wirken des 'Münzmeisters Lippold' und die Vertreibung der Juden aus der Mark 'auf ewige Zeiten' 1571 sind die Wegmarken jüdischer Geschichte im Berlin-Brandenburg des 16. Jahrhunderts.
Breiteren Raum nimmt die Darstellung für die Zeit ab dem Jahre 1671 ein, mit welchem Datum gemeinhin der Beginn der neueren Berliner jüdischen Geschichte verknüpft wird. Detailliert geschildert werden die Ansiedlung der ersten vertriebenen Wiener Juden nach dem Aufnahmeedikt von 1671, die schwierigen ersten Jahrzehnte der entstehenden neuen Gemeinde und die sich verschärfende Judenpolitik unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. Hier kann sich die Verfasserin, im Unterschied zu den vorangegangenen Epochen, auf breitere Vorarbeiten stützen. Dennoch sind hier einige kritische Bemerkungen anzuführen. So war den sich nach 1671 ansiedelnden Juden laut Aufnahmeedikt durchaus nicht der Kleiderhandel verboten, vielmehr entwickelte sich dieser zu einem wesentlichen Bestandteil jüdischen Wirtschaftslebens. König Friedrich Wilhelm I. führte eine Anzahl neuer, von den Juden zu zahlenden Abgaben ein. Dazu gehörte aber nicht die Akzise, die von allen städtischen Untertanen zu entrichten war. Unklar bleiben die Ausführungen zum Generalreglement vom 17.4.1750, denn dieses sah keineswegs die Etablierung einer den ordentlichen Schutzjuden hervorgehobenen Kategorie von 'Generalprivilegierten' vor. Vielmehr war diese Praxis Friedrichs II. und seines Nachfolgers, eine kleine Zahl von im Sinne der Wirtschaftspolitik erfolgreichen Juden gegenüber ihren Glaubensgenossen 'besser zu stellen', geradezu ein Kennzeichen der Widersprüchlichkeit der Judenpolitik, da hier bestehende gesetzliche Normen außer Kraft gesetzt wurden. Ob diese Generalprivilegierten auch alle 'Hofjuden' waren, kann bezweifelt werden, zumindest gehen hier die Meinungen auseinander. Den ordentlichen Schutzjuden war es im übrigen nicht "gesetzlich untersagt" (34), ein zweites Kind 'zu haben'. Nicht die Kinderzahl wurde beschränkt, sondern es erheblich erschwert, einen zweiten Nachkommen mit dem väterliche Schutzprivileg zu beerben.
Missverständlich sind die Angaben zu den sozialen Verhältnissen der Juden um 1750. Wenn es heißt, über "die Hälfte der Berliner Juden gehörte zur unteren Mittelschicht, die meist gar nicht das Vermögen aufbrachte, einen Schutzstatus zu erwerben" (36), so stellt sich nicht nur die Frage, wer hier konkret gezählt, sondern auch, welcher jüdische Bevölkerungsteil hier als 'Mittelschicht' begriffen wird. Die Juden, die vermögenshalber nicht in der Lage waren, einen Schutzstatus zu erwerben, gehörten sicher nicht dazu [1].
Der nach dem Siebenjährigen Krieg wachsende finanzielle Druck auf die Gemeinde, die Entstehung einer neuen jüdischen Wirtschaftselite, die Berliner Haskala und die einsetzende Modernisierung innerhalb der Judenschaft werden in ihren wesentlichen Zügen dargestellt. Dem Urteil, dass, wenn schon nicht von Friedrich II. gegenüber den Juden praktiziert, zumindest in seinem Kabinett der "Geist der Aufklärung" (39) herrschte, kann allerdings in seiner Pauschalität nicht zugestimmt werden. Es stützt sich auf das von weiten Teilen der Forschung weitergegebene Bild eines ohne Abstriche fortschrittlich denkenden und den Juden gegenüber toleranten preußischen Staatsapparats, das Selma Stern anhand ihrer Quellenauswahl suggeriert [2]. Die zunehmenden Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinde, die nicht zuletzt von der Haskala und dem wachsenden Anpassungsdruck an die nichtjüdische Gesellschaft genährt wurden und unter anderem in einer Zunahme der Taufen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck fanden, waren bereits Vorboten noch kommender Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. Mit der Schilderung der frühen Emanzipationsdebatte und der ersten, halbherzigen rechtlichen 'Besserstellungen' der preußischen Juden zu Beginn der Regierung Friedrich Wilhelms II. beschließt Flumenbaum ihren Beitrag.
Julius H. Schoeps behandelt mit den Jahren von 1790 bis 1870 die eigentliche Kernzeit der Emanzipation der Juden, die er als "Anpassungsprozess" überschreibt (53-88). Die Betonung liegt auf dem Wandlungs- und Akkulturationsprozess, den Schoeps vornehmlich in der jüdischen Oberschicht verortet. Das Emanzipationsgesetz von 1812 war gewissermaßen Anfang und Auslöser sich verstärkender innerjüdischer Reformbestrebungen. Im Zeitraum zwischen 1830 und 1847 verortet Schoeps eine "deutlich erkennbare Hinwendung zum Deutschtum" der Berliner Juden und die Entwicklung eines spezifisch "berlinisch-jüdische[n] Bürgertum[s]" (76), das selbstbewusst seinen festen Platz in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Stadt einnahm. Es ist augenfällig, dass vor allem die Berliner Juden es in ökonomischer Hinsicht verstanden, die sich im Modernisierungsprozess bietenden Chancen zu nutzen. Dass dies aber mit einem "Wechsel von abhängiger zu selbständiger Berufsarbeit" (68) einher gegangen sein soll, ist nicht klar ersichtlich. Des marginalen sozialen Status der Mehrheit der Juden vor dem 19. Jahrhundert ungeachtet war doch den zahllosen Kleinhändlern, Pfandleihern und Wechslern eines gemein: eine in ökonomischer Hinsicht von 'Unabhängigkeit' geprägte Wirtschaftstätigkeit [3].
Da den Juden insgesamt die Akzeptanz in Staat und Gesellschaft versagt blieb, blickten viele erwartungsvoll auf die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848, an denen sie sich überdurchschnittlich beteiligten. Das Scheitern der Revolution beließ zwar die politischen Verhältnisse weitgehend beim Alten, die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 erklärte aber endlich die gesetzliche Gleichheit aller Preußen, und damit auch die der Juden. Es schien, als sei die bürgerliche Gleichstellung der Juden endgültig gelungen. Der Bau der Synagoge in der Oranienburger Straße galt als Symbol des selbstbewussten Berliner Judentums, das in den 1860er-Jahren zudem mit eigenen Problemen beschäftigt war: Die Auseinandersetzungen zwischen Reform und Orthodoxie führten 1869 endgültig zur inneren Spaltung der Gemeinde. Dass "mit der politisch-rechtlichen Gleichstellung keineswegs die gesellschaftliche Gleichstellung einherging" (88), blieb über die Reichsgründung hinaus ein Faktum. Die gesellschaftliche Diskriminierung machte Juden die Ausübung richterlicher, militärischer oder erzieherischer Funktionen per 'ungeschriebenem Gesetz' fast unmöglich.
Die Entwicklungen der 'Kaiserzeit' von 1871 bis 1918 skizziert Chana C. Schütz (89-136). 1910 lebte knapp ein Viertel aller deutschen Juden in der Hauptstadt, die unablässig Menschen anzog. Der jüdische Bevölkerungszuwachs war hauptsächlich Ergebnis der Zuwanderung aus Posen und Osteuropa. Dieser Zuzug wurde von der akkulturierten Gemeinde mit Skepsis betrachtet, hier drohten "Gefahren für den sozialen und kulturellen Bestand des heimischen Judentums" (120). Im Unterschied zur Mehrheit der Berliner Juden waren die Zuwanderer "traditionell konservativ-religiös gebunden" (124). Dieser Immigration geschuldet war ebenso eine Veränderung der beruflich-sozialen Struktur der Juden. Im Kaiserreich waren die Berliner Juden ein "integraler Bestandteil des Berliner Bürgertums" (97). Dies bezog sich nicht allein auf ihre ökonomische Bedeutung, sondern ebenso auf ihren wachsenden Anteil an Naturwissenschaften, Medizin, Kunst und Kultur. Der Bedeutung der 'Jüdischen Gemeinde zu Berlin' gemäß entstanden zahlreiche Synagogen und eine Vielzahl von gemeindlichen Einrichtungen. Trotz der großen Spannungen zwischen Reform und Orthodoxie waren sich die Berliner Juden, wie Schütz betont, über eines einig: "Sie wollten Deutsche sein, nicht mehr , aber auch nicht weniger" (106).
Der sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ausbreitende Antisemitismus traf die meisten Juden unvorbereitet. Erst in den 1890er-Jahre organisierte sich in verschiedenen Vereinsgründungen eine "umfassende Abwehrbewegung" (111). Darüber hinaus entstanden um die Jahrhundertwende diverse jüdische Organisationen, die als Reaktion auf die verbreitete Nichtakzeptanz von Juden in bestehenden 'deutschen' Studentenkorporationen und 'bürgerlichen' Vereinen zu sehen sind. Der 1904 ins Leben gerufene Verband der deutschen Juden übernahm die inoffizielle Vertretung der Juden in politischem Sinne. Der politische Zionismus konnte in der Anfangsphase nur schwer in Berlin Fuß fassen, wie Schütz zutreffend ausführt, stand doch für die große Mehrheit der Juden ihr 'Deutschtum' außer Frage. Größer waren zunächst die kulturellen Wirkungen, die Entdeckung einer 'jüdischen' Kunst und Kultur.
Der 1. Weltkrieg brachte mit dem 'Burgfrieden' nur kurzzeitig ein Ende der antisemitischen Anfeindungen. Schütz verweist zu Recht darauf, dass nicht nur die "Judenzählung" vom 1.11.1916 das Wiederaufleben des Antisemitismus markierte. Auch die am 23. April 1918 verhängte Grenzsperre für polnisch-jüdische Arbeiter, die zuvor zu tausenden ins Land eingeladen worden waren, gehört in diesen Konnex. Zu Kriegsbeginn hatte es die Heeresleitung noch geschickt verstanden, sich der starken jüdischen Bevölkerung Polens als Befreier zu verkaufen. Nach dem "Friedensschluss" von Brest-Litowsk erübrigte sich eine solche Politik, worauf vielleicht noch hätte hingewiesen werden können.
Das Ende des Kaiserreiches traf die gesamte Gesellschaft in ihrer Substanz. "Die Juden waren ein integraler Bestandteil dieser Ordnung gewesen, und so traf sie ihr Zusammenbruch auch mit besonderer Wucht" (136), wie Schütz schließt.
Mit Michael Brenner stellt ein Kenner vor allem der kulturellen Entwicklung dieser Zeit die 'Weimarer Jahre' 1919 bis 1932 (137-180) dar [4]. War Berlin insgesamt zum unangefochtenen politischen und kulturellen Zentrum Deutschlands avanciert, so traf dies für die jüdische Bevölkerung in noch entscheidenderem Maße zu. Anfang der 1930er-Jahre lebte hier etwa jeder dritte deutsche Jude. In den 1920er-Jahren erreichte der Zuzug von Juden aus Osteuropa seinen Höhepunkt. Die großstädtische Gemeindeorganisation hatte angesichts der Masseneinwanderung wie der auf Grund der Weltwirtschaftskrise zunehmenden Verarmung des jüdischen Mittelstandes wachsende soziale Aufgaben zu lösen. Die von Brenner präsentierten Zahlen zeigen dies deutlich. In den innerhalb der Einheitsgemeinde geführten Auseinandersetzungen waren durch den Zionismus aufgeworfene politische Themen in den Vordergrund gerückt. Seit 1919 stritten Liberale und 'Volkspartei' um die Führung, ging es um die Frage des Selbstverständnisses als 'Religions-' oder 'Volksgemeinde'. Zahlreiche in- und ausländische jüdische Künstler und Intellektuelle ließen sich in der Stadt nieder, die mit einer Vielzahl von Aktivitäten zu einer "Renaissance jüdischer Kultur" beitrugen (142). In Berlin etablierten sich Theater, Verlage und Zeitschriften. Jüdische Literatur fand einen wachsenden Leserkreis, in der bildenden Kunst wie der Musik griff man jüdische Themen auf. Im jüdischen Leben der Stadt kam deutsch-jüdischen wissenschaftlichen Einrichtungen eine zentrale Rolle zu. Brenner verweist darauf, dass diese Blüte jüdischer Kultur in erster Linie als Interesse an 'Jüdischem' als "kulturellem Ereignis" (161) zu verstehen sei, das einher gehen konnte mit einem fortschreitenden Rückzug eines im 'Alltag gelebten Judentums'. Während das Hervortreten von jüdischen Politikern sich auf die Revolutionszeit und die frühen Jahre der Republik beschränkte, waren im Pressewesen, in Kultur und Wissenschaft jüdische Namen häufig anzutreffen, die das Schlagwort von einem angeblich herrschenden 'berlinisch-jüdischen' Geist kursieren ließen.
Doch verneint Brenner zu Recht die vermeintliche Wirksamkeit eines 'jüdischen Geistes'. Vielmehr sei im Berlin der 1920er-Jahre die Integration von Juden weiter fortgeschritten "als zu irgendeiner anderen Zeit oder an einem anderen Ort in der deutsch-jüdischen Geschichte" (174). Allerdings waren auch die Gegentendenzen angesichts des wachsenden Antisemitismus nicht zu übersehen.
Hermann Simon fasst die 'Zeit des Nationalsozialismus' 1933-1945 zusammen (181-220). Nur wenige Juden ahnten 1933, was wirklich auf sie zukommen würde. Simon urteilt sicher zu Recht, viele Juden glaubten damals, dass die "antisemitischen Äußerungen Hitlers lediglich wahltaktische Gründe hatten und er das ja eigentlich gar nicht so meine" (187). Durch die äußeren Umstände gezwungen blühten Organisationen und Einrichtungen der Gemeinde, wie etwa der 'Kulturbund', bis 1938 regelrecht auf. Seit 1933 verließen viele jüdischen Kinder und Jugendliche die allgemeinen Schulen, um die jüdischen als "schützenden Hafen" (188) würdigen zu lernen, bis auch diese (der Besuch von öffentlichen Schulen war seit November 1938 verboten) 1942 geschlossen wurden.
Schon vor dem Novemberpogrom 1938 waren die Berliner wie alle deutschen Juden ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubt und in die gesellschaftliche Isolierung getrieben worden. Die Pogromnacht vom 9. zum 10.11.1938 markierte eine tiefe Zäsur. "Hatte man vorher noch die Hoffnung, sich halbwegs mit den Verhältnissen arrangieren zu können, so erwies sich diese nun endgültig als gescheitert" (192 f). Simon schätzt, etwa 50.000 Berliner Juden haben Deutschland verlassen können. Nach Kriegsbeginn dienten Verordnungen zunehmend der Vorbereitung der Deportationen. Von September 1941 bis März 1945 wurden über 50.000 Berliner Juden verschleppt. Zu den Verfolgten gehörten nach den pseudowissenschaftlichen Rassedefinitionen auch 'getaufte Juden' ('Geltungsjuden'), also Christen. Gerade auf Letztere sei das "Unglück wie eine Naturkatastrophe" hereingebrochen (204). Dass aber ein Jude "sein Schicksal in die Kontinuität der Geschichte stellen" und in "dieser Sinngebung einen Halt" finden konnte (204), erweckt - von Simon gewiss ungewollt - den Anschein von der Existenz zweier unterschiedlicher Opfergruppen, bei denen die Verfolgung der einen mehr 'Sinn' gehabt habe.
Einer Zahl von Juden gelang es, in Berlin den Naziterror zu überleben. Die erfolgreiche Protestdemonstration von Ehefrauen zur Rettung ihrer jüdischen Männer (Februar 1943) und der für jüdisches Leben immer enger werdende Raum kommen ebenso zur Sprache wie die problematische Rolle der 'Reichsvereinigung der Juden in Deutschland'. Schließlich geht Simon auf die 'illegal' überlebenden Juden ein. Eine Auswahl aus den antijüdischen Verordnungen der Nationalsozialisten rundet die Darstellung ab.
Die Zeit vom Kriegsende bis zur unmittelbaren Gegenwart schildert Andreas Nachama, der Vorsitzende der heutigen Jüdischen Gemeinde zu Berlin (221-246). Innerhalb der Ende 1945 neu gegründeten Jüdischen Gemeinde entbrannten Diskussionen über die Zukunft, denn es war keineswegs selbstverständlich, einfach in einer scheinbaren Kontinuität an das untergegangene Gemeindeleben anzuknüpfen. "Sollte die sich etablierende Jüdische Gemeinde eine neue Ära jüdischen Lebens in Berlin aufbauen oder nur die in Berlin weilenden Holocaust-Überlebenden betreuen, bis diese eine neue Heimat gefunden hatten?" (229), fasst Nachama die brisanteste Frage zusammen. Später wurde der Kalte Krieg auch zum Problem der Berliner Gemeinde. Zu Recht verweist Nachama auf die antijüdische Propaganda im stalinistischen Osteuropa und der DDR Anfang der 1950er-Jahre. Die in den Berliner Westsektoren konzentrierten jüdischen Einwohner und Gemeindeeinrichtungen bekamen weiteren Zulauf, bis die Trennung 1953 besiegelt wurde: In West-Berlin prägte Heinz Galinski den "Prozess von der Liquidations- zur Aufbaugemeinde" (232) und fand das Gemeindeleben die Unterstützung der Politik, während die Ost-Berliner Gemeinde in "starke Abhängigkeit von den Ost-Berliner Machthabern" (232) geriet. Augenfällig wurde diese politische Spaltung an der Haltung beider Gemeinden zum Staate Israel. Im Westteil der Stadt waren seit den 1970er und 1980er-Jahren Ausstellungen über jüdische Geschichte Anzeichen einer verstärkten 'Rückbesinnung durch Kultur'. Ende der 1980er-Jahre wurde im Ostteil die Gemeinde als außenpolitisches Instrument entdeckt. Honecker habe gemeint, "mit Unterstützung jüdischer Organisationen die Teilung Deutschlands als Konsequenz des nationalsozialistischen Unrechts aufrechterhalten zu können" (237). Nach Wiedervereinigung und Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zählt die Jüdische Gemeinde heute wieder mehr als 11.000 Mitglieder und ist Sitz nationaler wie internationaler jüdischer Organisationen.
Zusammenfassend kann dieser Band trotz einzelner kritischer Bemerkungen als eine klare Bereicherung der zwar umfangreichen, aber doch nur verstreut zugänglichen Literatur zur Geschichte der Juden in Berlin gewürdigt werden. Bei einer solchermaßen gedrängten Darstellung aus der Feder unterschiedlicher Autorinnen und Autoren kann es schlechterdings nicht ausbleiben, dass einzelne Themenbereiche unterschiedlich gewichtet werden und der Leser das eine oder andere vermisst. Der Anschaulichkeit dienen nicht nur die zahlreichen Illustrationen und Bilder, sondern auch die nachgerade in den die jüngeren Epochen behandelnden Beiträge reichlich eingeflochtenen Zitate von Zeitzeugen. Angesichts der Tatsache, dass eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung des Themas wohl nicht zu leisten ist, war ein solches, neueres Kompendium 'für alle' ein Desiderat. Der Forschung bleibt es im einzelnen überlassen, die zum Teil großen 'weißen Löcher' in der Geschichte der Juden in Berlin zu schließen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. Steven M. Lowenstein: The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family, and Crisis, 1770-1830, New York/Oxford 1994, besonders S. 55ff.
[2] Selma Stern: Der preußische Staat und die Juden, Teile I-III, Tübingen 1962-71, Teil IV Gesamtregister, Tübingen 1975 (Teile I u. II: erste Auflage 1925 und 1938).
[3] Vgl. etwa Victor Karady: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt am Main 1999, S.61.
[4] Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000 (zuerst: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany, Yale University Press 1996)
Carl Josef Virnich