Dieter Graf / Hermann Mildenberger: Chiaroscuro. Italienische Farbholzschnitte der Renaissance und des Barock. Katalog zu den Ausstellungen in den Kunstsammlungen zu Weimar 2001, in der Casa di Goethe, 2001 und im Haus der Kunst, München 2002/3 (= Im Blickfeld der Goethezeit; Bd. 4), Berlin: G & H Verlag 2001, 211 S., 71 Farb-, 49 s/w-Abb., ISBN 978-3-931768-56-0, EUR 27,50
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Die Kunstsammlungen zu Weimar besitzen einen auch im internationalen Vergleich hervorragenden und facettenreichen Bestand an italienischen Chiaroscuro-Holzschnitten. Eine 2001 für Rom (Casa di Goethe), Weimar und München (Haus der Kunst) organisierte Ausstellung präsentierte diesen Schatz in Auswahl, begleitet von einem die Kollektion und das Medium Chiaroscuro anspruchsvoll dokumentierenden und diskutierenden Katalogbuch. In solcher Wissenschaftlichkeit steht das Thema zwar eher am Rande der gegenwärtig vielfach event-populär orientierten Ausstellungsprojekte, folgt damit aber auch einem heimlichen (Gegen-)Trend zur Neubesinnung auf sachlichen Ernst, auf intensive Beschäftigung mit vernachlässigten Feldern der Kunst- und Kulturgeschichte. Reproduktionsgrafik ist ein solches Feld. Nachdem vor kurzem in Stuttgart die Grafik-Ausstellung "Raffael und die Folgen" zu sehen war, fällt nun der Blick - und wiederum in Zusammenarbeit mit der externen deutschen Forschungsbibliothek Hertziana (Rom) - auf die aparte Welt der Chiaroscuro-Holzschnitte.
Unter "Chiaroscuri" sind farbige Bilddrucke zu verstehen, die den Charakter von weißgehöhten Pinsel- und Federzeichnungen imitieren und vor allem in der italienischen Kunst des 16. bis 18.Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielten. Die oft großformatigen grafischen Bilder resultieren aus zwei bis vier übereinander gedruckten Strich- und Flächenformplatten. Sie zeigen bei hohem dekorativen Wert eine technische Virtuosität, die manchmal ihren funktionalen Status als Reproduktionsgrafik vergessen lassen und allein deshalb zu begehrten Sammlerobjekten wurden. Etwas anderes kommt hinzu: Da die Chiaroscuro-Drucke seit ihrer Erfindung um 1516/18 durch Ugo da Carpi zumeist Kompositionen berühmter Meister nachbildeten, trugen sie nicht unerheblich zur Kultur der kennerschaftlichen Dispute in Ateliers und Salons bei. So diente ihre Vorbildtreue und sinnliche Attraktivität noch dem Weimarer Universalisten Goethe als Exempel für seine kunsttheoretischen Reflexionen, ja sogar für kunsthistorische Forschungen. (Goethe, man sollte es nicht vergessen, war neben allem anderen eben auch Kunsthistoriker!) Chiaroscuro-Blätter waren dem Dichterfürsten Dokumente, die ihm die malerische Sinn- und Sinnenfülle räumlich entfernter Originale nachempfinden und grafisch-abstraktiv analysieren halfen.
All das, im künstlerischen wie im wissenschaftlichen, vom grafikgeschichtlichen Horizont des Mediums Chiaroscuro bis zum Einzelblick Goethes, stellt die Weimarer Kollektion eindrucksvoll vor Augen, und es ist ein Glück für Bibliophile und Grafiksammler, dass der von Hermann Mildenberger und Dieter Graf (Rom) erarbeitete Katalog dem hohen Anspruch der Ausstellung gerecht wird.
Der Katalog besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil (Hermann Mildenberger) widmet sich ganz aus weimarischer Perspektive den Sammlungs- und Forschungsinteressen Goethes, insbesondere seiner Begeisterung an Mantegnas "Triumphzug des Julius Cäsar" in der neunblättrigen Chiaroscuro-Version des Andrea Andreani von 1599. Der zweite (Dieter Graf und Mitarbeiter) dokumentiert, beschreibt, analysiert und interpretiert die Fülle der 70 Ausstellungsstücke. Rund um die Andreani-Folge wird so ein reichhaltiges Panorama des, durch mehrere Epochen und Stile hindurchgehenden, bildnerisch wie technisch fruchtbaren Helldunkelprinzips entworfen. Während Teil I also einen exemplarischen Fokus (Weimar-Goethe-Mantegna) setzt, breitet Teil II die Versionen und Varianten des so vielseitigen Druckmediums zwischen Frühzeit (Ugo da Carpi) und letzten Höhepunkten um 1750 (Antonio Maria Zanetti) aus. Der Zusammenhang beider Teile liegt nicht zuletzt darin, dass Goethes Chiaroscuro-Erwerbungen die ersten Blätter sind, aus denen sich der Weimarer Sammlungsbestand aufbaut.
So plausibel dieses Konzept im ganzen ist, mir scheinen sich aus der harten Zweiteilung neben einigen Vorteilen doch auch Nachteile zu ergeben. Sie betreffen weniger die Ausstellung als das Katalogbuch. Zunächst die konzeptuellen Vorteile: Indem das Buch den Sonderfall Goethe und den Horizontdiskurs zum grafischen Medium unvermittelt aneinander setzt, wird das Thema, das ist sicherlich ein Gewinn, sogleich in seiner überraschend vieldimensionierten Spannweite sichtbar. Goethes Chiaroscuro-Rezeption von 1820, also an der Schwelle zur modernen Fachwissenschaft, gibt ein ganzes Bündel neuer kunstgeschichtlicher Aspekte zu erkennen. Offenkundig wird gerade in dieser Verdichtung, welch informativen Nutzen, Schönheitsgenuss, pädagogisch-denkmalpflegerisches Engagement, ja welche Forschungsleidenschaft der Umgang mit Reproduktionsgrafik, insbesondere mit den seltsamen Chiaroscuri, den Kunstfreunden einmal bedeuten konnte. Der Fall Goethe zeigt, wie im reproduktionsgrafischen Ersatz all die Bildideen der Jahrhunderte womöglich produktiver wahrgenommen wurden als in der unübersetzten Anschauung des Originals vor Ort. Goethe hatte Mantegnas "Helldunkel" auf seiner Italienreise bewundern können. Doch erst in Weimar, 30 Jahre später und anhand Andreanis Reproduktionen, wurde für ihn ein mehrjähriges Erkenntnis- und Forschungsprojekt daraus. Erst auf Basis der grafisch medialisierten Reflexion gewann Mantegnas malerisch-plastisches Doppelleben für ihn jene Triebkraft, die den "schauenden" Dichter zum recherchierenden Wissenschaftler werden ließ. Autor Hermann Mildenberger trägt auf Basis inzwischen zuverlässig ausgewerteter Forschungsbefunde alle Äußerungen Goethes zu seinem Mantegna-Projekt zusammen und gewährt dabei glänzende Einblicke in das Weimarer Kulturraisonnement des frühen 19.Jahrhunderts. Schade nur, dass mit Fortgang dieser Spezialstudie das eigentliche Ausstellungsthema "Chiaroscuro" dem Verfasser etwas außer Blick gerät.
Mit abruptem Neuanfang muss denn auch Dieter Graf in Teil II auf dieses eigentliche Ausstellungs- und Buchthema zurückkommen. Seine Angaben sind knapp, aber solide. Wir lernen Grundlegendes über die Sammlungs- und Forschungsgeschichte der Chiaroscuro-Schnitte allgemein kennen, über diejenige der Weimarer Sammlungen im besonderen. Wir werden über die wichtigsten technischen Fragen des Mediums - zumindest grob - unterrichtet, erfahren auch einiges über seine Zielsetzungen: dass sie nämlich im bloßen Imitieren von Handzeichnungsvorlagen keinesfalls ganz aufgingen. Denn gegenüber den Originalschöpfern Mantegna, Raffael, Parmigianino oder Reni mussten die Chiaroscuro-Grafiker notgedrungen eine eigene handwerkliche Effektsprache erlernen, die letztlich das Medium mit einem gewissen Selbstwert, einem eigenen "Kunstwert" ausstattete. Es entstand, oft nur in Nuancen, eine eigenwillige Ästhetik der technoiden Verformelung und pretiösen Schematisierung.
Das alles findet man zügig im Vorspann zum eigentlichen Katalogteil abgehandelt. Grafs eigentliche Leistung liegt allerdings weniger in dieser Einführung als in der souveränen Erläuterung der 70 Katalognummern. Hier bewährt sich seine Überblickskompetenz. Die Texte sind prägnant, dienen als sachliche Information und Sehhilfe. Das Universum der kunstgeschichtlichen Ikonografie, sonst Sache der schier uferlosen Spezialistendiskussion, ist in den kurzen Artikeln auf das Wesentliche hin ausgefiltert. Hier wird der Katalog zum gut leserlichen und wertvollen Handbuch. Der Ausstellungsbesucher ist auf diese Erläuterungen schlechthin angewiesen, will er den Niveauanforderungen der Ausstellung gerecht werden. Wer das Buch als Übersichts- und Nachschlagewerk benutzt, findet in ihm gleichzeitig einen Leitfaden durch die Labyrinthe der Spezialliteratur.
Die Nachteile sind bereits angeklungen. So vorteilhaft es ist, ein großes und vernachlässigtes Thema der Kunstgeschichte über Fokus und Horizont in die Zange zu nehmen, so unvermeidlich sind die dabei anfallenden Lücken und Verluste. Mildenbergers Goethe-Beitrag verdichtet sich am Ende so sehr auf den Weimarer Sonderfall, dass seine Transparenz für die Eigensprachlichkeit des Chiaroscuro-Mediums beinahe verloren geht. Dabei läge im plastisch-malerischen Zwiespalt des, die Farbigkeit und die tastbaren Werte zerschichtenden, Mehrplattenverfahrens genug Diskussionsstoff für genau jenes "Doppelleben", das Goethe auch bei Mantegna ausfindig machte und das ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr los ließ. Um das Doppelleben der Form gründlicher verstehen zu können, hätte die von Graf im Katalogteil nur angerissene Technologie des Chiaroscuro-Verfahrens wohl doch etwas ausführlicher erklärt werden müssen. Ein methodischer Vergleich mit den ganz anderen Farbholzschnitten eines Cranach oder Baldung hätte das italienische Prinzip besser verdeutlicht, als dies in den gebotenen wenigen Angaben möglich war. Dass Chiaroscuro-Schnitte in ihrem Streben nach medialen Effekten sogar kokette Anleihen bei Kupferstichlineamenten nehmen konnten (so bei Katalognummer 31), ja dass sie manchmal mit den Wirkungen von Flächenätzungen aus der Radierkunst liebäugelten (Katalognummer 32), das auszuführen hätte dem Verständnis des raffinierten Mediums sicherlich noch gut getan. Freilich: ein Handbuch muss primär daran gemessen werden, was es alles und insgesamt bietet, weniger daran, was es in Nuancen vermissen lässt.
Ernst Rebel