Norberto Gramaccini / Hans Jakob Meier: Die Kunst der Interpretation. Italienische Reproduktionsgrafik 1485-1600, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009, 519 S., ISBN 978-3-422-06872-8, EUR 98,00
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Markus A. Castor / Jasper Kettner / Christien Melzer u.a. (Hgg.): Druckgraphik. Zwischen Reproduktion und Invention (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Bd. 31), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, XI + 498 S., ISBN 978-3-422-06920-6, EUR 58,00
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Aus mehreren Gründen ist die Geschichte der Druckgrafik revisionsbedürftig geworden. Sie muss mit Blick auf die aktuelle Medienrealität mehr denn je daran interessiert sein, ihre historisch-technischen Grundlagen neu bewerten zu lassen, darf also nicht länger ein vernachlässigtes Feld der Medienarchäologie bleiben. Unser Verständnis von "Reproduktion" hat sich über viele Schritte hin verändert, das allein rechtfertigt die Neubegründung. Heute rangieren technische Reproduktion und Vervielfältigung der Bilder nicht mehr nur als bloße Funktionsstützen unterhalb der "eigentlichen", originalen Geistigkeiten der Kunst, sondern sind als normierende Bedingung von Bilderfahrung inzwischen unumstritten, gelten uns insofern sogar als kommunikative Vollendung jeder Kunst. Längst reden wir von einer eigenen medialen "Intelligenz" der reproduzierenden Bilder und wissen, dass ohne den Modellcharakter der Druckgrafik die kulturellen Transfers der Moderne zwischen Singulär- und Breitengeschmack, Exzellenz und Signifikanz visueller Systeme nicht mehr hinreichend analysiert werden können. Vor dem Hintergrund solcher Aktualität sind nun zwei ehrgeizige Buchprojekte zu sehen, die beide das Verhältnis von Reproduktion und Interpretation beleuchten. Beide Male stehen Fragen der Übersetzung von Bild zu Bild, der Transformationen zwischen Vorlage und Multiplikat, nicht zuletzt der vergleichenden Sinndeutung und Leistungsbewertung im Vordergrund.
Beide Bücher verfolgen gleichermaßen historische wie systematische Erklärungszwecke. Den historisch kompakteren Zugriff bietet dabei fraglos der voluminöse Band zur italienischen Reproduktionsgrafik zwischen 1485 und 1600, zugleich Katalog zu einer Ausstellung im Berliner Kupferstichkabinett (März bis Juni 2009), wo ein Teil der über 200 im Buch behandelten Grafiken gezeigt wurde. "Kunst der Interpretation" steht als doppelsinniger Titel über diesem Projekt, worin die Ergebnisse von zwei Forschungskongressen in Berlin und Florenz (2007 / 2008), von Buch- und Ausstellungsunternehmung eindrucksvoll zusammenkommen. Die beiden Autoren, Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier, hatten in ähnlicher Weise schon vor einigen Jahren (2003) über die französische Reproduktionsgrafik des 17. und 18. Jahrhunderts gearbeitet, konnten so wiederum auf eine bewährte Synthese aus bild- und medientheoretischen, kennerschaftlichen und technologischen Aspekten setzen. Das auch drucktechnisch brillant gelungene Werk (gleichsam eine epochenübergreifende Selbstwerbung des alten wie neuen Print-Mediums) ist in zwei große Textabteilungen gegliedert. Gramaccini diskutiert als Verfasser des ersten Teils zunächst die Beziehungen zwischen Buchdruck und Bilddruck, wobei er die Leitautorität humanistischer Gelehrsamkeit für beide Bereiche überzeugend in Ansatz bringt. Denn Buch wie Bild dienten denselben Anfängen ästhetisch-moralischer Erziehung auf Basis der neuen Gedankenöffentlichkeit, die sich zunächst vor allem in Florenz und Padua, dann in Rom, Venedig und Bologna etablierte. Ab 1480 und bis 1600 waren diese Städte denn auch die stilistisch sich verschieden akzentuierenden Zentren des Buch- und Bilddrucks, bevor der Schwerpunkt der grafischen Produktion von Italien nach Antwerpen weiter wanderte.
Gramaccini findet mit seiner Einteilung nach monologischen, dialogischen, interpretierenden und übersetzenden Kupferstichen eine systembegrifflich zwar nicht völlig problemlose, doch pragmatisch zuverlässige Methode für die Ordnung des Bildmaterials. Es kommen so Annäherungs- und Selbständigkeitsgrade im Spannungsfeld zwischen Vorlage und Reprodukt, Idee und Ausführung zur Sprache, die letztlich den gesamten kunsttheoretischen Nachahmungsdiskurs (Pietro Bembo!) befruchten. Vor allem für die "Blütezeit" um 1510 gelingt Gramaccini ein fast lückenloser Anschluss humanistischer Theorien an das zunehmend künstlerisch sich verselbständigende Handwerk der Reproduktionsgrafik. Mit Raffaels römischer Werkstatt und dem kongenialen Bolognesen Marcantonio Raimondi (bei diesem immer wieder auch mit Seitenblicken auf das nordalpine Genie Dürers) wird ein sowohl übersetzender wie interpretierender Dialog zwischen Originalzeichnung und Stichreproduktion modellhaft, der auf alle ähnlichen Unternehmungen späterer Zeit vorausweist.
Hans Jakob Meier knüpft im zweiten Textteil an diese kunsthistorischen und bildtheoretischen Aspekte an, vertieft sie aber technologisch, intertextuell und funktionsgeschichtlich. Liniensysteme werden erörtert, Werkstattpraxen in der Entwicklung zwischen Mantegna und Agostino Carracci exemplarisch unterschieden, Inschriften nach Rhetorik und Politik analysiert, und immer wieder tritt auch in Meiers Teil die eine durchgängige theoretische Grundfigur ans Licht: Erfindung und Interpretation der Bilder sind dialektisch aufeinander bezogen, das gilt für den "originalen" wie "reproduktiven" Status. Kaum eine Interpretation der Kunst, die nicht durch das Maschenwerk ihrer multipel-grafischen Übersetzungen hindurchgegangen wäre! Selbst das "auratische" Originalerlebnis existiert streng genommen nur als medial gebrochenes Sehen, ja verdankt seine Geistigkeit eben dieser medialen Brechung. Auch wenn eine Stufenfolge zwischen Ideenvervielfältigung und getreuer Werkimitation festzustellen bleibt, somit auch zwischen künstlerischen Fähigkeiten, Freiheiten und Rechten - die Bedingungsmacht des Druckmediums darf nicht länger ins Schattenreich der Kunstgeschichte verortet werden, gleichsam als die notwendige Wirklichkeit, aber schwächere Wahrheit der Bilder. Sie muss vielmehr als historisch wachsende Matrix verstanden werden, als conditio sine qua non für den Eigen- und Kommunikationswert aller denkbaren ästhetischen Phänomene. Meier kann das bis in feine Verästelungen zeigen: "Druckgrafisch fixierte Bildkonzepte dienten [...] ihrerseits als Schulung für Zeichner und als Bildquelle für nahezu alle Kunstgattungen, von der Majolikaproduktion [...] über den Kameenschnitt bis hin zur Buchillustration." (76)
Alles in allem hat das opulente Werk seinen Hauptverdienst sicherlich darin, dass die italienische Grafikgeschichte der Renaissance nunmehr auch mit der allgemeinen Quellenforschung dicht verzahnt werden kann (wertvoll ist hier insbesondere der gehaltvolle Quellenanhang). Insofern tritt es ergänzend und stützend an die Seite des großen Handbuchs von Landau / Parshall (1994). Fülle und Präzision der Darlegungen beider Autoren sind so bestechend wie die Qualitäten des Bildmaterials überwältigend. Für den Laienleser dürfte allerdings die komplizierte Zuordnung von Bildern, Texten und Anhängen nicht leicht zu durchschauen sein. Auch konnten kleinere Fehler selbst auf diesem hohen Niveau nicht ausbleiben: So sollte man "Pasticcio" nicht unbedingt mit "Fälschung" gleichsetzen (61) und Dürers Rückkehr von seiner zweiten Venedigreise erfolgte nicht 1508, sondern bereits 1507 (28f.).
Auch die zweite umfangreiche Neuerscheinung firmiert als Auswertung von Forschungsprojekten, denn sie fasst Vorträge von Kongressen in Paris und Dresden (2008) zusammen. Dabei ist freilich der historische Bogen weiter gespannt, reicht er doch - obwohl zentriert aufs 17. und 18. Jahrhundert - bis ins 20. Jahrhundert (Max Ernst, Otto Freundlich), dazu enthält der Fächer der Materialien wie der Einzelfragen naturgemäß wesentlich mehr Facetten. Dennoch kann man beide Neuerscheinungen gut vergleichen. Es dominieren auch in diesem, vom "Deutschen Forum für Kunstgeschichte" in Paris angeleiteten Sammelprojekt die künstlerischen wie wissenschaftlichen Probleme rund um die Reproduktions- und Interpretationsdiskurse. "Wann, wozu und wie werden die Vorbilder der großen Gattungen in der Graphik übersetzt" (4) bleibt die nämliche Hauptfrage, und keineswegs wird sie allein auf französisch-deutsche Themen - sonst Normalprogramm des "Centre Allemand" - hin zugespitzt. Die Frage wird zeitlich wie örtlich übergreifend gestellt, sie spürt überall aus der Fülle der grafischen Aspekte jene Tendenzen heraus, die auf die Moderne unserer Medienwirklichkeiten verweisen.
Das spezialistisch hoch verdichtete Material ist in drei Abteilungen angeordnet. Ein erster Komplex widmet sich mit 10 Beiträgen der Übersetzungsproblematik ("Prozess der Transformation"), ein zweiter mit weiteren 11 dem Kunstwerkcharakter der Druckgrafik ("Etablierung als künstlerisches Medium"), drittens kommt mit sieben Studien die "Variabilität der Funktionen" zur Darstellung. Insgesamt geht es um "Ambivalenzen", "Umprägungen", "Gattungsverortungen", "Mediendifferenzen", "Rekontextualisierungen", "Referenzialisierungsstufungen" (41), "Re-Inventionen" (6), "Rückkopplungssysteme", "Vergleichsstrategien" (127), "Autorschafts- und Sammlungstheorien" (223, 249). Die dichte Fülle der ambitionierten Begriffsbildungen deutet es schon an: Hier weht ein schärferer Theoriewind, und auch die Primärforschungsbefunde können mit einer breiteren Streuung, dabei dichteren Sondierung aufwarten, intensiver, als dies Einzelautoren in einer Monografie zu leisten imstande sind. Dafür bekommt man es hier, bei Tagungsbänden ebenfalls unvermeidlich, mit der heftigeren Atmung, gelegentlich Kurzatmigkeit forcierter Thesen und Relevanzbehauptungen zu tun.
Lesenswert sind die Beiträge alle. Ob sie immer auch als tiefgründig-gewichtig gelten können, hängt natürlich von der jeweiligen Perspektive ab. So sind aus der Sicht des Rezensenten folgende drei Artikel hervorzuheben: Markus A. Castor, einer der Herausgeber des Bandes, hat die vielseitige Rolle des Zeichners, Radierers, Sammlers und Autors Comte de Caylus (1692-1765) ausgeleuchtet ("Die Objektivierung der zeichnende Hand"). Die Eigenpraxis des zeichnenden Denkens, das sich als vergleichendes Sehen zwischen den Systemen und Medien bewährt, wird als frühes Beispiel dafür genommen, wie gerade im bibliophilen und grafischen Transfer eine neuartige Kompetenz ästhetischer (Selbst-)Bildung bereits vor Mitte des 18. Jahrhunderts gedeihen konnte. Anne Röver-Kann ("Mit heißen und kalten Nadeln") widmet sich dem Doppelleben der Radierkunst zwischen Ätztechnik und Kaltnadel. An keiner anderen Stelle des Buches wird die Zellteilung aus Funktion der Wiedergabe und Autonomie des Ausdrucks derart evident gemacht. Mechanisch gebundener Gestus und chemischer Selbstprozess rangieren hier als vermittelter Gegensatz von freiem Experiment und zweckgerichtetem Abbild: Reproduktion von und aus Freiheit. Ad Stijnman ("Kupferstecher bei der Arbeit") bietet eine kleine, aber variantenreiche Ikonografie des Grafiker-Berufs vor 1645. Aus dieser Bildergruppe eine "gleichberechtigte Rezeption von Stechern, Malern und Bildhauern durch die Zeitgenossen" (271) herzuleiten, scheint zwar nicht zwingend (was behaupten Bilder nicht alles, wenn sich ihre Urheber nur irgendwie auf die Disegno-Autorität beziehen können!), doch hat eine Übersicht über solch legitimatorische Selbstdarstellungen bislang gefehlt. Stijnmans Quellenanhang mit frühen Werkstattrezepten bereichert darüber hinaus den technologischen Wissensbestand.
Wie gesagt, alle 28 Studien sind forschungsintensiv fokussiert. Sie tragen aus neuestem Wissen nach und fügen bei, was systematische Grafikhistorien nicht bieten können und auch nicht bieten müssen. Aber wir brauchen zum Verständnis des Reproduktionswesens, ja zur Frage nach dem Bild grundsätzlich, nicht nur den kohärenten "Diskurs", wir benötigen dazu ebenso die einzelnen "Figuren". Die aber sind nur über ihre divergierende Fülle interpretierbar.
Ernst Rebel