Rezension über:

Eckhard Leuschner: Antonio Tempesta. Ein Bahnbrecher des römischen Barock und seine europäische Wirkung (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 26), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, 640 S., 536 Abb., ISBN 978-3-937251-50-9, EUR 99,00
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Rezension von:
Ernst Rebel
Institut für Kunstpädagogik, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Rebel: Rezension von: Eckhard Leuschner: Antonio Tempesta. Ein Bahnbrecher des römischen Barock und seine europäische Wirkung, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/9283.html


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Eckhard Leuschner: Antonio Tempesta

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Die Fachgeschichte kennt ihn gerade mit Müh und Not, den florentinisch-römischen "inventore", "pittore", "incisore" Antonio Tempesta (um 1550 - 1630). Bezeichnend ist, dass Informationen über ihn und sein Werk keineswegs in allen Kunstlexika, geschweige denn Übersichtswerken zu finden sind. Wenn von Rom um 1600 die Rede ist, dann von Caravaggio, von den Carracci, nicht von Tempesta. Nur wenige Spezialisten wissen ein wenig Bescheid über Tempestas ungewöhnlich reich facettiertes Oeuvre, das sich aus allen Gattungen und Techniken der Malerei, der Handzeichnung, insbesondere aber der Druckgrafik zusammensetzt. Auch dass sein Name nach 1600, mit allerdings unterschiedlicher Bewertung, immer wieder durch die wichtigsten Quellentexte geistert (unter anderem bei Baglione, Bellori, Félibien); dass sein riesiges, weltweit verstreutes Werk in öffentlichen und privaten Sammlungen auf seine Erforschung wartet; dass schließlich Künstlerkollegen zwischen 1600 und 1800 mit seinem Namen vertrauter waren als zeitgleich viele Kunstschriftsteller - all das ist immerhin in einigen Ansätzen bekannt. Freilich, eine gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung des Werks fehlte bisher. Schmerzlich war das nicht nur für Grafikkustoden, Sammler und Händler. Mehr und mehr wurde ein Desiderat für Kunst-, Bild- und Kulturhistoriker daraus. Für diejenigen etwa, die den Innovationsschock eines Caravaggio nicht umstandslos aus einem bloßen Genie erklären wollen, vielmehr aus einem besonders faktorenreichen Umfeld.

Solchen Gesamtbedarf nachzuweisen und anzumahnen, macht von der ersten bis zur letzten Zeile den Ehrgeiz des Autors aus. 2002 legte Eckhard Leuschner nach langjährigen Forschungen seine Resultate als Habilitationsschriftschrift vor, nun (2005) ist das opus magnum, vorzüglich ausgestattet und ediert, im Druck erschienen. Das Buch besitzt einen hochdifferenzierten Bauplan, der nur auf den ersten Blick etwas verwirrend erscheint, beim Lesen sich dann als klare Ordnung bewährt. Leuschner behandelt im ersten Abschnitt den persönlichen und künstlerischen Werdegang des Künstlers Tempesta und zeichnet zunächst dessen frühe Karriere als Maler nach. Ausgangszentrum ist Florenz. Die Stadt, die sich um 1570 gerade in ihren künstlerischen und kunstpolitischen Prinzipien verwandelt, ihr Akademisierungsdrang als Erbe von Vasaris Betriebsamkeit, der wachsende Einfluss der Niederländischen Schulen (Stradano, Galle), die neue normierende Kraft der tridentinischen Riforma, Wahrnehmung persönlicher Protektionen (Roscio, Giustiniani) - dieses Florenz ist das Ambiente, das Tempesta künstlerisch wie unternehmerisch für alle späteren Zeiten prägt. "Manieristische" Figurenkomposition, niederländische Naturschilderung und Alltagserzählung zwischen Entwurfswitz und gefälliger Manier sind und bleiben die Koordinaten seiner ständig wandelbaren Bildproduktion, die sich wechselnden Auftragslagen stets anzupassen versteht. Schon in Florenz sind es die Tier-, Schlachten und Jagddarstellungen, die Tempestas Erfolg entscheidend begründen, weil sie in ihrer treffsicheren, fantasieanregenden Lebendigkeit vorbildlich wirken.

Das eigentliche Zentrum des weiteren Geschehens bildet dann über mehrere Kapitel und Exkurse hinweg Rom. Es ist das Rom der Päpste, Orden, Behörden, Fürstenfamilien, Humanistenkreise, Verlagshäuser, Druckwerkstätten; es ist das Rom der imperialen Glaubenspolitik, des "barocken" Superfokus, in das alle Wege hinein und in alle Welt wieder hinaus führen. Es ist die neulebendige Zentrale im Netz der Traditionen. Antonio Tempesta entwickelt in diesem hochfrequenten Soziotop seine eigentlichen Fähigkeiten und Geschäftstüchtigkeiten, sein "Label": die multieffektiv gehandhabte Radierkunst. Mit dieser Technik, die zwar schon seit ca. 1510 existiert, doch über Experimentierstadien kaum je hinaus gekommen ist, findet Tempesta seinen eigentlichen Ausdrucks- und Wirkungsträger. Technisch fixierte Handschriftlichkeit sichert der Radierung ihren Hauptvorzug: schnelle Motivfindung zwischen Spontaneität und Standard. Dank ihrer Multiplizität füllt sie die Musterbücher der Künstler im In- und Ausland mit Vorlagen. Und nicht wenige dieser radierten und mit Inschrift versehenen Vorlagen sind geeignet, als zweifacher Werbeträger aufzutreten. Als Reklame nämlich für die eigene Werkstatt und als widmungsunterlegte Propaganda für die verschiedenen geistlichen und fürstlichen Auftraggeber. Tempestas "Concetto" verbindet motivgestaltliche Prägnanz mit einer gewissen Offenheit der grafischen Signatur. Darin lag wohl, wie zu Recht resümiert wird (520), der hohe praktische Wert seiner Invenzioni, somit ihr Erfolgsgeheimnis begründet.

Es ist nicht das geringste Verdienst Leuschners, erstmals umfassend für die Grafikgeschichte nachgewiesen zu haben, wie öffentliche Kunstpolitik und individuelle Geschäftsinteressen über ein frühtechnisches Bildmedium wie die Radierkunst konvergieren konnten. Er zeigt, wie ein Werkstattinhaber zugleich als Künstler, "Designer" einer "Produktpalette", Verleger und Propagandist hervortreten konnte. Die soziologischen Faktoren Patronatswesen, Zensurbestimmungen, Privilegienbeschaffung, Widmungsdiplomatie, Verkaufskalkül, ja selbst so moderne Phänomene wie "Zweitverwertung" oder "Raubkopie" kommen nach und nach in den Blick und ergeben insgesamt so etwas wie das frühe Tableau eines "Betriebssystems Kunst".

Demgegenüber treten ikonografische und bildanalytische Anteile in Leuschners Untersuchung keineswegs zurück. Die nach 1590 in enormer Fülle einsetzenden Druckprojekte Tempestas, seine Serien- und Einblatteditionen wie der "Romplan", die "Heiligenviten", Ovids "Metmorphosen" und immer wieder Jagden, Schlachten, Tiere werden mustergültig zugeordnet, interpretiert, im jeweiligen Stellenwert gewürdigt. Kritik an manch schwachem Blatt fehlt nicht. (107, 498) Fragen des jeweiligen Bildstatus (Repräsentation, Narration), des rhetorischen Modus (Antikität, Heroik, Genre) werden gestellt und einleuchtend beantwortet. Niemals wird vergessen, dass auch traditionelle Begriffe des Fachs wie Stilkritik oder Epocheneinteilung ihre Gültigkeit sehr wohl behalten können, wenn sie nur differenzierter gefasst, kontextuell erweitert werden. Der Barockbegriff selbst erfährt so für sein heutiges Verständnis die notwendige Erweiterung.

Bei aller Stringenz der Teile lohnt es sich durchaus, in das Buch auch nur partiell hinein zu lesen. Wenn Leuschner im großen Abschnitt zur Rezeptionsgeschichte zahlreiche Einzelanalysen (Jan Steens "Arztbesuch", 544/45) einstreut, bewährt sich sein Text immer auch als Nachschlagewerk und Fundgrube. Dass Rubens, Rembrandt, Poussin, Velasquez (wie stand es mit Goya?) den Tempesta, diesen Hans-Dampf-in-allen-Gassen des künstlerischen Rom, geschätzt, benutzt und verarbeitet haben, mit dieser Wirkungsgeschichte hätte man allein ein ganzes Buch füllen können. Und wenn am Ende Aby Warburg (562-580) als Zeuge des frühen 20. Jahrhunderts und gleichsam als "Überraschungsgast" auftritt, der nach dem aktuellen Zeitgeist in Tempestas Ideenbatterie fragt, verwandelt sich zuletzt Tatsachengeschichte in ihre Methodenreflexion.

Eckard Leuchner hat in einer wahren Herkulesarbeit neues Wissen verfügbar gemacht. Seine Recherchen in mehr als 60 Grafikkabinetten und - archiven Europas und der USA fanden dabei ihren grandiosen Niederschlag. Der Autor, der sich inzwischen auch als Verfasser der Tempesta-Kommentarbände im Illustrated Bartsch einen Namen als weltweit bester Kenner des Materials machen konnte, hat glücklicherweise nicht nur die fehlende Monografie im Auge gehabt. Er hat mit Antonio Tempesta nichts weniger als eine breitangelegte Feldstudie, eine umfassende Komparatistik aller die römische wie internationale Bildindustrie um 1600 betreffenden Fakten und Tendenzen erarbeitet. Das Erstaunliche: Die gewaltige Auslage des Buches mit seinen 17 umfangreichen Kapiteln wirkt im Verhältnis zum Kernthema niemals angestückt und aufgeblendet (der Rezensent gesteht, er hat das zunächst befürchtet!), tatsächlich bildet für all die vielen Exkurse und Ebenenwechsel immer Tempestas Kunst den Ausgangs- und Rückkehrbezug. Leuschner stellt seine Arbeit ausdrücklich unter den Anspruch eines "Methodenpluralismus aus stilistischer, ikonographischer und kultur- und sozialgeschichtlicher Analyse". (17 und 583) So entgeht er der Enge einer Einzelvertiefung. Er sondiert mehrfach, verschränkt chronologisch-historische Anordnung mit systematischen Diskursen und hermeneutischen Befunden, alles immer auf Basis einer immensen Quellen- und Literaturverarbeitung. Allein wegen seines akribisch gesammelten Quellenanhangs dürfte dem gewichtigen Band der Rang eines Handbuchs sicher sein.

Um es nochmals zu sagen: Leuschners Buch ist mehr als die längst fällige Monografie über einen Künstler von 1600. Es erschließt einen neuen Kontinent der vorindustriellen Grafik- und Bildgeschichte.

Ernst Rebel