Fritz Neumeyer: Quellentexte zur Architekturtheorie, München: Prestel 2002, 608 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7913-2602-3, EUR 39,95
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Quellensammlungen besitzen die Eigenart, dass sie ebenso wie wissenschaftliche Abhandlungen in zweifacher Hinsicht selektiv sind: zum einen in der Auswahl der präsentierten Quellen, zum anderen in der fragmentarisierenden Herauslösung aussagekräftiger Passagen aus ihrem textlichen Kontext. Während der Autor wissenschaftlicher Schriften jedoch stets daran gemahnt wird, seinen subjektiven Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand methodisch zu reflektieren, scheint dieses Regulativ für Quellensammlungen mitnichten zu gelten. Vielmehr wird in derartigen Publikationen suggeriert, man lasse die Schriften in ihrer ganzen Authentizität selbst sprechen.
Die im letzten Jahr von dem Berliner Architekturhistoriker Fritz Neumeyer herausgegebenen "Quellentexte zur Architekturtheorie" - die erste Publikation dieser Art - zeigt jedoch einmal mehr, dass dies eine sorgsam gepflegte Illusion ist. Das rund sechshundert Seiten umfassende Werk enthält Quellentexte, die von der Antike bis zur unmittelbaren Gegenwart reichen, wenn auch der Schwerpunkt eindeutig auf der Architekturtheorie des 19. und 20. Jahrhunderts liegt. Während die Renaissance noch durch fünf Autoren - Alberti, Serlio, Vignola, Palladio, Scamozzi - repräsentiert wird, vertreten gerade mal noch drei Schriften das gesamte 18. Jahrhundert - darunter Laugiers "Essai sur l'architecture" (1753), die anonymen "Untersuchungen über den Charakter der Gebäude" (1785) und Étienne-Louis Boullées "Architecture - Essai sur l'art" (1793). Die 32 folgenden Beispiele entstammen den Theorien von Jean-Nicolas-Louis Durand bis Rem Koolhaas.
Begleitet werden die Quellen durch eine jeweils kurze Einführung, die Kontext und Bedeutung der abgedruckten Textfragmente kursorisch anreißt und darüber hinaus einführende Literatur zum jeweiligen Autor nennt. Allerdings begnügt sich Neumeyer keineswegs mit der Präsentation seiner Favoriten. In einem den Quellenkapiteln vorangeschickten Essay mit dem Titel "Nachdenken über Architektur. Eine kurze Geschichte ihrer Theorie" formuliert er zugleich seine ganz persönliche Deutung der Architekturgeschichte.
Ausgangspunkt der "Gedanken" Neumeyers ist die bekannte Feststellung, dass die Architektur stets als Metapher für die theoretischen Konstrukte der Geistesgeschichte gedient habe. Als Beispiel für diesen Topos führt er die Metaphysik mit ihren kosmologischen Weltentwürfen an. Von der Antike bis zu Descartes und Leibniz sei der intellektuelle Systembau stets in Analogie zur Konstruktion eines vollkommenen Gebäudes gesehen worden. Umgekehrt wurde die Baukunst auf der Grundlage kosmologischer Ordnungssysteme wie Maß und Zahl eben als Ausdruck jener metaphysischen Gedankengebäude interpretiert.
Erst mit der schleichenden Krise des Vitruvianismus, die Neumeyer gegen Ende des 18. Jahrhunderts ansetzt, obwohl sie sich de facto schon während der Frühaufklärung deutlich vernehmbar abzeichnet, sei dieser enge Konnex auseinander gebrochen. Die Welt sei nicht länger als mechanisches Räderwerk und die Architektur nicht mehr ausschließlich als gebautes Harmonieideal verstanden worden. Spätestens mit Nietzsche werde dann jeder Systembau, sei er gebaut oder gedacht, als Ersatzreligion entschleiert. Dabei interpretiert Neumeyer den Philosophen als voraussetzungslosen Begründer einer antimetaphysischen Architekturästhetik. Tatsächlich aber ist der ausgeprägte Empirismus Nietzsches ohne die ästhetische Diskussion seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht erklärbar.
Während man derartige Ungenauigkeiten noch als essayistische Freiheiten durchgehen lassen könnte, erschwert Neumeyers manifestartige Interpretation des modernen Diskurses unter der Überschrift "Architektur-Theophanie: Architekturtheorie als frohe Botschaft vom Fortschritt" eine wohl wollende Beurteilung. Es ist zwar richtig, wenn Neumeyer die grundsätzliche Skepsis des neuen Bauens gegenüber der historischen Architektur betont. Allerdings gilt es zugleich, die historische Bedingtheit dieser Position mit all ihren ästhetischen, sozialen und politischen Implikationen herauszustellen, will man ihrer Komplexität gerecht werden. Mit der Reduktion der Architekturmoderne auf das Auslöschen alles Historischen redet Neumeyer eher einem bestimmten Lager der zeitgenössischen deutschen Architekturdiskussion das Wort, als dass er hier an einer einigermaßen wertfreien Einführung in die moderne Theoriebildung interessiert ist.
Entsprechend dieser einseitigen Bewertung beobachtet Neumeyer sichtlich erleichtert in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts eine Revision der Architekturgeschichten mitsamt ihren Theorien. Es sei daher kein Zufall, dass das erneute Aufkeimen des Historischen zugleich eine "Renaissance der Architekturtheorie" hervorgebracht hätte, wofür Hanno-Walter Krufts titanisches Unterfangen einer "Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart" (1985) als Beleg dient.
Zugleich wird jedoch äußerst pedantisch auf einige Lücken in dieser erst 1995 als Studienausgabe erneut aufgelegten Darstellung hingewiesen, da die Besprechung von Theoretikern wie Dagobert Frey, Adolf Göller, August Schmarsow oder Herman Sörgel hierin fehle. Angesichts der schwindelerregenden Leerstellen in Neumeyers Quellensammlung haftet diesem rein quantitativen Abgrenzungsversuch allerdings etwas Groteskes an. Im Unterschied zu Kruft sucht man bei Neumeyer vergeblich nach den einflussreichen Schriften Filaretes, Roland Fréart de Chambrays, Abbé Jean-Louis de Cordemoys oder etwa Nicolas Le Camus De Mézières.
Darüber hinaus ignoriert Neumeyer vollständig vermeintliche Randbereiche der Architekturtheorie wie den englischen oder spanischen Diskurs. Die für die frühe Kritik am normativen Vitruvianismus und für die Entwicklung essayistischer Architekturkritik zentrale Schrift "The Elements of Architecture" (1624) des englischen Gelehrten und Politikers Henry Wotton wird hier ebenso wenig berücksichtigt wie etwa der für die Verbindung von antiker und christlicher Architektur-Mythogenese in ganz Europa bedeutende Ezechiel-Kommentar (1596-1604) Juan Bautista Villalpandos.
Selbst Georg Germanns immer noch zu empfehlende "Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie" (1980) spiegelt trotz ihres äußerst begrenzten Umfangs ein facettenreicheres und letztlich im Zugriff auch systematischeres Bild architekturtheoretischen Denkens in Europa wieder als dies Neumeyers Buch zu leisten vermag. Das gilt jedoch nicht nur für die bloße Quantität der verarbeiteten Autoren, sondern vor allem für die Qualität der selektiven Textauswahl.
Als Beispiel mögen hier bereits Neumeyers Auszüge aus Vitruvs "Zehn Bücher über Architektur" dienen, die ja nicht nur den Auftakt zu einer zweitausendjährigen Quellengeschichte der Baukunst bilden, sondern in weiten Teilen zugleich die kategoriale Struktur des Architekturdiskurses bis weit ins 19. Jahrhundert vorgeben. Während Georg Germann und Hanno-Walter Kruft sinnvoller Weise mit der Erläuterung der vitruvianischen Kategorien aus dem ersten Buch beginnen, verzichtet Neumeyer vollständig hierauf. Vielmehr entnimmt er Curt Fensterbuschs allseits bekannter deutsch-lateinischen Vitruv-Ausgabe jeweils die ersten Kapitel des zweiten, dritten und vierten Buches. In den genannten Passagen beschreibt Vitruv unter anderem die Gründungslegende der Architektur als eines initium topos, die Symmetrien der Tempel mit der berühmten Beschreibung des geometrisierten Menschen sowie die Entstehungsgeschichte der drei Säulenordnungen. Dass es sich hierbei um zentrale Stellen handelt, die die gesamte spätere Architekturtheorie beeinflussen sollten, ist unbestritten. Allerdings ist es für das weitere Verständnis der Architekturgeschichte fatal, wenn man vollständig auf die vitruvianischen Ausführungen zu den ästhetischen Grundbegriffen der Architektur wie etwa Disposition, Eurythmie, Symmetrie, Dekor und Distribution im zweiten Kapitel des ersten Buches verzichtet.
Die spezifischen Probleme nachfolgender Autoren in der Auseinandersetzung mit derartigen Begrifflichkeiten und ihrer zeitgemäßen Umdeutung dürften sich so dem Leser kaum erschließen. Neumeyers "Gedanken zur Architektur" mit ihrer Darstellung theoretischer Paradigmenwechsel müssen daher zwangsläufig unverständliche Horizonte bleiben. Man hätte sich entscheiden müssen, ob man eine an den Quellen orientierte Einführung anbietet oder etwa eine wesentlich umfangreichere Quellensammlung, die durch eine sorgfältige Auswahl von selbst spricht. Neumeyer jedenfalls erreicht weder das eine noch das andere. So stellen Georg Germanns und Hanno-Walter Krufts Untersuchungen nach wie vor die geeignetsten Mittel dar, um sich einen ersten Überblick über die Entwicklung der Architekturdiskurse zu verschaffen. Dem Architekturhistoriker bleibt selbstverständlich immer noch der Blick auf die Quellen.
Carsten Ruhl