Peter Winzen: Friedrich Wilhelm von Loebell. Erinnerungen an die ausgehende Kaiserzeit und politischer Schriftwechsel (= Schriften des Bundesarchivs; 75), Düsseldorf: Droste 2016, XLVIII + 1255 S., ISBN 978-3-7700-1633-4, EUR 89,00
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Arbeiten zum Konservatismus haben in der Geschichtswissenschaft wieder Konjunktur. Die hier vorzustellende Edition von Peter Winzen, einem ausgewiesenen Kenner der Geschichte des deutschen Kaiserreichs, ist einem Politiker gewidmet, den man wohl zu den vergessenen Persönlichkeiten der wilhelminischen Epoche rechnen darf. "Konservativ" wird in Deutschland, anders als etwa in den angelsächsischen Ländern, vielfach pejorativ als Kampfbegriff verwendet, bei dem Vorstellungen von Rückständigkeit und Bigotterie im Vordergrund stehen. Wer den vorzustellenden Band gelesen hat, begreift, warum derartige Geschichtsklitterungen heute so leicht verfangen, trennt unsere Lebenswirklichkeit doch sehr viel von der Wertewelt und den sozialen Verhältnissen, denen Friedrich Wilhelm von Loebell (1855-1931) entstammte. Hinzu kommt, dass gerade der preußisch-protestantische Konservatismus kontaminiert ist mit der Erinnerung an den verlorenen Ersten Weltkrieg, dessen Ursachen und Folgen, was ein unvoreingenommenes Herantreten an diese Zeit noch zusätzlich erschwert. Konservatismus erscheint in dieser Perspektive, die untrennbar verwoben ist mit der Vorstellung von einem deutschen Sonderweg, als eine (hoffentlich bzw. Gott sei Dank) überwundene Geisteshaltung, die nicht nur inakzeptabel für die Gegenwart ist, sondern auch gewissermaßen rückwirkend delegitimiert werden muss. Umso erfreulicher ist es, dass die vorzügliche Edition, die neben den Erinnerungen Loebells auch einen Großteil von dessen amtlichem und privatem Schriftverkehr aus den Jahren 1904 bis 1931 vorlegt, wie auch die Kommentierung der Texte dieses Vorurteil nicht bedienen, sondern vielmehr den Facettenreichtum konservativer Politik im späten Kaiserreich deutlich machen.
Loebell, in eine ursprünglich schlesische Familie hineingeboren, entstammte dem Milieu des protestantischen (hoch)konservativen preußischen Adels, der nach der Reichsgründung seine politische Heimat in der Deutschkonservativen Partei fand. Er begann seine Karriere 1885 sozusagen klassisch als Landrat in der Provinz Hannover, und setzte sie 1889 im brandenburgischen Westhafelland fort. 1898 wurde Loebell für den Wahlkreis Brandenburg a.d. Havel-Westhafelland in den Reichstag gewählt, verlor dieses Mandat allerdings schon zwei Jahre später wieder, weil Manipulationen zu Lasten des mit ihm dort konkurrierenden sozialdemokratischen Bewerbers nachgewiesen werden konnten - ein kurzfristiger Karriereknick, der dem politischen System des Kaiserreichs bzw. dem Wahlprüfungssystem dieser Zeit kein schlechtes Zeugnis ausstellt. Loebell kandierte daraufhin erfolgreich für den preußischen Landtag, wo es, vor dem Hintergrund des Dreiklassenwahlrechts, für Konservative einfacher war, sich gegen Sozialdemokraten durchzusetzen. Dort konnte er sich politisch weiter profilieren und 1904 als Vortragender Rat in die Reichskanzlei wechseln, 1907 wurde er zum Unterstaatssekretär ernannt, schied allerdings zwei Jahre später im Zusammenhang mit dem Rücktritt Bernhard von Bülows vom Amt des Reichskanzlers, der ihn sehr gefördert hatte, wieder aus. Der Grund hierfür waren auch die heftigen Auseinandersetzungen um die geplante umfassende Reichsfinanzreform, bei denen sich Loebell von den Konservativen im Stich gelassen fühlte.
Er wurde anschließend für kurze Zeit Oberpräsident der Provinz Brandenburg, schied dann aber 1910 endgültig aus dem Staatsdienst aus und ging in die freie Wirtschaft. Diese Tätigkeit füllte ihn jedoch auf Dauer nicht aus. Dennoch lehnte Loebell das Angebot, als Staatssekretär für Elsass-Lothringen in die Politik zurückzukehren, ab, weil er ein Kritiker der von Reichskanzler Bethmann Hollweg 1911 eingeführten Verfassung für das Reichsland war, welche dort u. a. das allgemeine Männerwahlrecht vorsah, was Loebell strikt ablehnte. Seine Befürchtung, sich den Rückweg in den Staatsdienst nun endgültig verbaut zu haben, erwies sich indes als unbegründet: Am 1. Mai 1914 wurde er zum preußischen Innenminister ernannt, ein Amt, das er bis zum Sturz Bethmann Hollwegs 1917 innehaben sollte. In dieser neuen Rolle musste Loebell einige Determinanten seines politischen Weltbilds modifizieren, im Kern blieb er allerdings seinen bisherigen Auffassungen treu.
Geistig war er tief verwurzelt in der der Wertewelt des traditionellen preußischen Konservatismus: Erstens machtpolitische Stärkung des preußisch-deutschen Reiches, zweitens unbedingtes Eintreten für die Rechte der Krone und die überkommenen Grundprinzipien der Verfassung Preußens wie des Reichs, was eine Weiterentwicklung hin zur parlamentarischen Monarchie bzw. eine Demokratisierung des politischen Systems ausschloss, drittens unbedingte Bekämpfung der Sozialdemokratie, die er lediglich als Staatsfeinde begreifen konnte. Letzteres war nach Kriegsausbruch unter den Bedingungen des Burgfriedens so nicht mehr möglich. Umso mehr stemmte sich Loebell allerdings gegen alle Versuche, in Preußen das Dreiklassenwahlrecht nach dem Vorbild des Reichstagswahlrechts zu demokratisieren. Er entwickelte Konzepte für ein Pluralwahlrecht, welches das Dreiklassenwahlrecht modifizieren, aber ebenfalls gewährleisten sollte, dass es keinesfalls zu einer Demokratisierung des Wahlrechts kommen konnte. Von 1917 bis Anfang 1919 amtierte Loebell dann nochmals als Oberpräsident der Provinz Brandenburg, bevor er sich, der die aus der Revolution geborene Ordnung strikt ablehnte, endgültig aus dem Staatsdienst zurückzog. In der Weimarer Republik betätigte er sich allerdings weiterhin politisch als Präsident des sogenannten Reichsbürgerrats, der für das Ziel einer bürgerlichen Sammlungsbewegung unter preußisch-konservativen Vorzeichen agitierte.
Das Urteil Winzens über den Politiker Loebell fällt eindeutig aus: Obwohl er nach 1909 auf Distanz zur Führung der Deutschkonservativen gegangen war, blieb er ein staatskonservativ eingestellter Politiker, der immer mehr in Gegnerschaft zu Bethmann Hollweg geriet und sich auch an dessen Sturz beteiligte. Nach innen konservativ-restaurativ und nach außen annexionistisch und gegen einen Verständigungsfrieden eingestellt, gehörte er zu den Politikern, die während des Ersten Weltkriegs wegen ihrer Unbeweglichkeit "sicherlich ungewollt - eine erhebliche historische Mitverantwortung für den politischen Niedergang des Kaiserreichs auf sich" luden, wodurch die Chance auf eine Revolution von oben verpasst wurde (1217). Dennoch macht die Edition auch deutlich, dass Loebell nicht einfach ein finsterer Reaktionär war, sondern ein Politiker, der, was seine Methoden anbelangt, bestrebt war, mit der Zeit zu gehen, etwa in der Pressearbeit sowie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dieser Charakterzug zeigt sich bei Loebell bereits sehr früh an einem markanten Beispiel: Während seines Studiums in Leipzig schloss er sich nicht, wie es angesichts seiner sozialen Herkunft eigentlich zu erwarten gewesen wäre, einem studentischen Corps an, sondern der von ihm mit anderen neu gegründeten Canitz-Gesellschaft, die einem Corps ähnlich war, aber, wie er im Rückblick schreibt, "die Form ist bei uns freier, um die Gefahr einer Erstarrung in alten Formen zu vermeiden" (30 f.). Man erkennt hier zweifellos einen wichtigen Grundtenor seines politischen Wirkens. Insofern wird in der Edition auch die Tragik des preußischen Konservatismus deutlich, der in seiner Mehrheit angesichts einer sich dramatisch verändernden Welt Dammbau betrieb, wo Kanalbau notwendig gewesen wäre.
Matthias Stickler