Christoph Nonn: Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert, München: C.H.Beck 2015, 400 S., 25 Farb-, 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-67589-8, EUR 24,95
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Die neue Biografie des an der Universität Düsseldorf lehrenden Historikers Christoph Nonn verfolgt das Ziel, das politische Wirken Otto von Bismarcks aus dessen preußischer Herkunft zu erklären und dieses einzuordnen in die großen Linien der europäischen Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihm geht es dabei vor allem um die Entmystifizierung des Politikers Otto von Bismarck, gleichsam um die Zurechtstutzung des "Reichsgründers" zu einem Politiker von allenfalls mittelmäßigem Format: "Bismarck war kein Genie. Er war ein begabter Diplomat und als Innenpolitiker leidlich erfolgreich. [...] Bismarck war stets eine Hebamme historischer Ereignisse, nicht ihr Schöpfer. Er brachte die Dinge mit auf die Welt, ohne sie gezeugt zu haben." (355 bzw. 356)
Mit diesen steilen Thesen steht Nonn durchaus in einer Kontinuität der deutschen Bismarckforschung seit den 1970er-Jahren, nämlich der Dekonstruktion des von Bismarck selbst mit seinem Memoirenwerk "Gedanken und Erinnerungen" in die Welt gesetzten Mythos vom genialisch schaffenden "Eisernen Kanzler", der die Bismarckrezeption noch bis weit in die Nachkriegszeit prägte. Sie bewahrt Nonn vor einem anderen Extrem, nämlich der Versuchung, Bismarck zu dämonisieren, ihn zum historischen Schurken und geistigen Vorläufer Adolf Hitlers zu stilisieren. Nonns Blick auf Bismarcks Leben und Werk ist deshalb, bei aller Kritik im Detail, auch überwiegend nicht negativ verzerrt oder interessengeleitet destruktiv. Sein Versuch, Bismarcks Denken und Handeln in der Wertewelt des preußischen ostelbischen Adels zu verorten, ein Ansatz, den Nonn freilich nicht erfunden hat, eröffnet vielmehr wichtige Einsichten und ermöglicht einen verstehenden Zugang, auch wenn man, wie der Autor selbst, damit nicht unbedingt affirmatives Verständnis für Bismarcks Politik verbindet bzw. erzeugen will (357). Die logische Konsequenz der von Nonn betriebenen Verzwergung Bismarcks - und damit geht er weit über bisherige bismarckkritische Interpretationen hinaus - ist indes, dass Bismarck zu einer gleichsam austauschbaren politischen Persönlichkeit wird. Insofern erübrigen sich für Nonn auch Überlegungen zur Frage der historischen Größe Bismarcks. [1]
Bemerkenswert ist diese Leerstelle bei Nonn nicht zuletzt deshalb, weil die Zubilligung politischer Größe für Bismarck keineswegs notwendigerweise einhergehen muss mit einer unkritischen Heldenverehrung. [2] Nonn postuliert, dass die deutsche Geschichte nach 1860 auch ohne Bismarck ähnlich verlaufen wäre, wobei er immer wieder implizit insinuiert, dass sie vermutlich besser verlaufen wäre: "Dass die deutsche Geschichte dann [ohne Bismarck, MS] anders verlaufen wäre, muss außerordentlich fragwürdig erscheinen. Den 'Deutschen Krieg' von 1866 hätte Preußen auch mit einem anderen Ministerpräsidenten gewonnen." (355) Überhaupt hat Nonn eine Vorliebe für kontrafaktische Geschichtsspekulationen. Die Biografie ist deshalb so strukturiert, dass einem an den biografischen Fakten orientierten Sachkapitel stets ein kontrafaktisch angelegtes Kapitel folgt, das mit "Alternative" überschrieben ist. Nun ist die kontrafaktische oder virtuelle Geschichtsbetrachtung bei allen Gegenargumenten, die man aus der Perspektive hermeneutisch orientierter Quellenkritik dazu anführen kann, zweifellos ein legitimer geschichtswissenschaftlicher Ansatz, der einer teleologisch grundierten Betriebsblindheit entgegenwirken kann und, zumal bei Werken, die auf eine breitere historisch interessierte Leserschaft abzielen, gerade mit Blick auf diese anregend und nicht selten weiterführend ist.
In Nonns Biografie zeigen sich allerdings doch deutlich die Grenzen solcher Formen der Geschichtsschreibung. So entwirft er in Kapitel 7 ("Die österreichische Alternative: Ein dauerhafter Deutscher Bund?") das Szenario, dass ein Ausbau des Deutschen Bundes unter österreichischer Führung erstens eine Alternative zur "blutigen und brachialen Reichsgründung mit 'Feuer und Eisen'" (195f.) gewesen wäre und diese Option die Möglichkeit eröffnet hätte, einen multinationalen zentraleuropäischen Staatenbund zu schaffen: "Vielleicht sogar der potentielle Kristallisationskern einer gesamteuropäischen Staatengemeinschaft" (203). Solche Überlegungen gab es zeitgenössisch in der Tat. Dennoch ist dreierlei zu Nonns kontrafaktischen Überlegungen anzumerken: Erstens wäre die Verwirklichung einer solchen "großdeutsch-föderalistischen" Lösung der Deutschen Frage etwas völlig anderes gewesen als Bismarcks Reichsgründung, weshalb gerade in der kontrafaktischen Perspektive der besondere Stellenwert der Persönlichkeit Bismarcks für die Politik der 1860er-Jahre deutlich wird. Zweitens darf nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass eine Lösung der deutschen Frage unter österreichischer Führung in einem längeren zeitlichen Horizont notwendigerweise weniger machtstaatlich verlaufen wäre als die Bismarcksche Reichsgründung. Harm-Hinrich Brandt, einer der besten Kenner der damit zusammenhängenden Fragen, hat mit guten Gründen darauf hingewiesen, "dass bei einer Fortsetzung des Deutschen Bundes die Habsburger Monarchie unter Beanspruchung einer gesamtdeutschen Führungsrolle mehr denn je versucht hätte, die vorhandene deutsche Nationalbewegung mit den Bedürfnissen und Interessen Österreichs zu verbinden. Im Sinne einer Kompensationsstrategie für Verfassungsdefizite im engeren Deutschland hätte dabei nach dem Vorbild von 1849 durchaus auch die Projektion offensiver Ziele nahegelegen". [3] Überhaupt ist drittens festzustellen, dass Nonn in Kapitel 7 manche Feststellungen trifft, die höchst angreifbar sind: So war der Norddeutsche Bund keineswegs eine "lockere Föderation" (194). Dessen Verfassung war vielmehr in der Grundstruktur nahezu identisch mit der des späteren Deutschen Reichs. Ebenso wenig war das Deutsche Kaiserreich einfach ein "unitarische[r], zentralistische[r] Nationalstaat" (199), dieser Schritt wurde erst mit Weimarer Reichsverfassung von 1919 vollzogen. Nonn überschätzt auch die Reformfreudigkeit Kaiser Franz Josephs in Bezug auf die Habsburgermonarchie und die positiven Folgen des Ausgleichs mit Ungarn 1867. So verfolgten das Oktoberdiplom von 1860 und das Februarpatent von 1861 keineswegs das Ziel, dass die "einzelnen Nationalitäten [...] ihre Interessen aushandeln" (205). Es trifft auch nicht zu, dass "Österreich nach 1866 [...] im föderalen Sinn reorganisiert" (195) wurde. Die Ausgleichsgesetze und die Dezemberverfassung von 1867 waren vielmehr ein letztlich fragiler Kompromiss der nationalliberalen maygarischen und deutschliberalen Eliten mit der Krone zu Lasten der übrigen Völker, die einen dezentralisierten Einheitsstaat im Westen der Monarchie ("Cisleithanien") und ein unitarisches ungarisches Königreich im Osten schufen, dessen Eliten sogleich daran gingen, ihre nationalen Minderheiten (1867 mehr als 50 % der Gesamtbevölkerung Ungarns) einem rigiden Magyarisierungsprogramm zu unterwerfen und durch ein manipulatives Reichstagswahlrecht von der politischen Willensbildung auszuschließen. Diese Fakten zu benennen, heißt nicht, die Reformfähigkeit der Habsburgermonarchie zu verneinen oder einer grundsätzliche Überlegenheit nationalstaatlicher Strukturen das Wort zu reden. Es ist auch festzuhalten, dass Nonn in Kapitel 7 keineswegs ein romantisch-naives Bild der politischen Wirklichkeit nach 1860 entwirft. Dennoch ist es problematisch, kontrafaktische Überlegungen auf einem im Kern doch idealisierten Bild der Habsburgermonarchie aufzubauen.
Auf zwei weitere Kritikpunkte sei abschließend noch kurz hingewiesen: Nonns These, Bismarck hätte im Falle seiner Nichtabberufung 1890 einen Staatsstreich herbeigeführt mit daraus resultierenden Massenunruhen, antisemitischen Pogromen und einer aggressiven Kriegspolitik, gehört ebenfalls in die Sphäre kontrafaktischer Spekulationen, die nicht wirklich weiterführen. Wenig überzeugend sind auch Nonns Versuche, die Einigungsprozesse von 1867 bis 1871 und 1989/90 zu vergleichen; hier fällt vor allem auf, dass er völlig außer Acht lässt, dass die Wiedervereinigung 1990 mit Zustimmung aller Großmächte vollzogen wurde und das vereinigte Deutschland in das westliche Bündnissystem integriert wurde. Nicht zuletzt in diesem Punkt hat Helmut Kohl die richtigen Schlussfolgerungen aus den Fehlern der Reichsgründung von 1871 gezogen und ist damit gerade nicht dem Beispiel Bismarcks gefolgt. Im Kapitel 13 ("Einige Antworten") wagt Nonn zudem einige Parallelisierungen bzw. Aktualisierungen (z.B. Schutzzollpolitik Bismarcks versus "nationalegoistische Wirtschaftspolitik" der Regierung Merkel, Übergang des Deutschen Reiches von der Agrar- zur Industriegesellschaft versus Entwicklung der Staaten des Maghreb und der Levante im Kontext des "Arabischen Frühlings"), die allzu gewollt erscheinen. Man fühlt sich hier bisweilen erinnert an die Inszenierung eines klassischen Dramas im Stile des Regietheaters, die versucht, den überlieferten Text gegen den Strich zu bürsten, indem ihm anachronistische Intentionen bzw. aktualisierenden Interpretationen unterschoben werden. Dennoch: Die Lektüre des Bandes ist anregend und gewinnbringend, gerade weil er Widerspruch provoziert. Potentiellen Rezipienten ist deshalb zu raten, nicht nur diese Bismarck-Biografie zu lesen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu zuletzt ausführlich Hans-Christof Kraus: Bismarck. Größe - Grenzen - Leistungen, Stuttgart 2015, 81-156.
[2] Vgl. etwa Jonathan Steinberg: Bismarck. A Life, Oxford 2011, v.a. 3, 5 und 29 und die Rezension von Henry Kissinger: "Otto von Bismarck, Master Statesman", in: New York Times, 31.03.2011.
[3] Harm-Hinrich Brandt: Deutsche Geschichte 1850-1870. Entscheidung über die Nation, Stuttgart 1999, 255. Nonn hat dieses wichtige Werk leider nicht benutzt.
Matthias Stickler