Annemarie Steidl: Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien; Bd. 30), München: Oldenbourg 2003, 333 S., ISBN 978-3-486-56738-0, EUR 49,80
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Die Leitfrage der hier zu besprechenden, bei Josef Ehmer entstandenen Dissertation zielt darauf, "welchen Einfluss die Entwicklung des jeweiligen Gewerbes und der Status in der Zunfthierarchie auf unterschiedliche Migrationsverhalten der Handwerker hatte, ob regionale Einzugsräume im Untersuchungszeitraum Veränderungen unterlagen" (11). Damit kann Steidl an die neueren Studien zur Migration von Handwerkern und anderen Bevölkerungsgruppen anknüpfen. Sie will ausdrücklich einen weiteren Beitrag zur Abkehr vom Bild der immobilen vorindustriellen Gesellschaft liefern. Die Wahl Wiens als Untersuchungsort führt jedoch sofort zu weiteren Dimensionen der Arbeit, die auf das Zentrum des Habsburgerreiches als Großstadt mit riesigem Hinterland ausgerichtet ist. Weitere Vorentscheidungen galten dem Begriff Handwerk, das hier mit guten Gründen nicht ausschließlich auf das Zunfthandwerk konzentriert wird. Vor allem die Seidenzeugmacher sprengen den zünftigen Rahmen. Ferner sind nicht nur Meister, sondern auch Gesellen sowie männliche und weibliche Lehrlinge einbezogen. Weder vom Arbeitsaufwand noch von den erhaltenen Quellen her war eine Totalanalyse des Migrationsverhalten Wiener Handwerker möglich. Die Auswahl fiel auf Fleischer, Rauchfangkehrer, Seidenzeugmacher und Taschner. Für diese Berufe standen hinreichend serielle Quellen zur Verfügung. Steidl verband die Informationen aus Freisprech- und Aufdingbüchern mit Einschreibebüchern durch "nominate record linkage" im Datenbanksystem Kleio. Ein ähnliches Vorgehen wandte im Übrigen kürzlich Johan Dambruyne (Corporatieve middengroupen. Aspiraties, relaties en transformaties in de 16de-eeuwse Gentse ambachtswereld, Gent 2002) für die Analyse Genter Handwerker im 16. Jahrhundert an. Durch die Verarbeitung von Massendaten entfernt sich die Handwerksgeschichte in Europa immer mehr von der unbefriedigenden Auswertung normativer Quellen und erschließt mit sozialwissenschaftlichen Methoden neue Horizonte.
Steidl ordnet ihren Ansatz zunächst in den Kontext der historischen Migrationsforschung ein, den sie erweitert um den Aspekt von Kommunikationsnetzwerken. "MigrantInnen bewegten sich in einer ihnen durch Kontakte bekannten Welt und waren keineswegs losgelöst von sozialen Netzwerken" (43). Sodann wird einführend Wien im 18. und 19. Jahrhundert beschrieben, zumeist aus der Perspektive potenzieller Zuwanderer. Die Herkunftregionen der Wiener Bevölkerung liefern im Übrigen forschungsgeschichtlich fast ein Schmankerl. Denn zwischen 1938 und 1945 wurde eine überwiegend "deutsche Herkunft" der Wiener Bevölkerung zugeschrieben - entgegen der böhmischen Dominanz nach 1800. Paradoxerweise avancierte einer der wegen "gesamtdeutscher Geschichtsauffassung" entlassenen Hochschullehrer, Heinz Zatschek, zum produktivsten Handwerkshistoriker Wiens nach 1945. Die Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung des Wiener Gewerbes wird verbunden mit den rechtlichen Unterschieden, die lange vor der Aufhebung der Zünfte 1859 Raum ließen für eine nichtprivilegierte Berufsausübung. Breiten Raum nimmt die Geschichte der vier behandelten Gewerbe ein, wobei die der Seidenzeugmacher am komplexesten verlief. Ursprünglich wurden Migranten aus der Lombardei angezogen. Das Gewerbe expandierte und beschäftigte zwischenzeitlich (1811) mehr als 30.000 Arbeitskräfte in sehr unterschiedlichen Betriebsformen.
Der migrationsgeschichtliche Teil macht die zweite Hälfte des Buches aus. Drei große Fallstudien sind jeweils Lehrlingen, Gesellen und Meistern in den vier Gewerben gewidmet. Die Zuwanderung der Lehrlinge verlief je nach Gewerbe unterschiedlich. Im Laufe des Untersuchungszeitraums war jedoch die Tendenz zur Konzentration auf die Habsburgermonarchie offenkundig. Es gelingt Steidl, Einzelbelege für die gezielte Anwerbung einzelner Lehrlinge zu finden. Wien zog gerade arme Zuwanderer an, wie auch autobiografischen Quellen zu entnehmen ist. Auch die Gesellen hatten berufsspezifische Einzugsregionen. Am engsten war der Radius der Fleischer ausgelegt. Bei den Seidenzeugmachern wurde im 19. Jahrhundert das Wandern an den Rand gedrängt, die Gesellen entwickelten sich zum sesshaften Proletariat. Regionale Einzugsräume von Meistern sind bisher selten untersucht worden. Stillschweigend wurde ihre Immobilität unterstellt, wenn sie erst einmal Meister geworden waren. Dem setzt Steidl die Beobachtung entgegen, dass Handwerker als Lehrlinge, Gesellen oder Meister nach Wien gekommen sein konnten. Ihr Befund ist eindeutig: Wien war - je länger, je mehr - auf massive Zuwanderung auch von Meistern angewiesen. Dabei verlagerte sich das Hauptherkunftsgebiet von Süd- und Südwestdeutschland im 19. Jahrhundert nach Böhmen. 1880 waren 50 bis 64% der selbstständigen Tischler, Schuster, Schneider und Schlosser dort geboren. Ein Schlusskapitel ist der Stabilität der Arbeitsverhältnisse gewidmet, die sich dem Zugriff über normative Quellen entzieht. Bei Lehrlingen gab es Abbruchziffern von bis zu 57%! Die Gesellenzuwanderung verlief saisonal schwankend und führte nur in begrenztem Ausmaß zu dauerhafter Beschäftigung. Die Lage der Meister war alles andere als stabil. Sie wechselten vor allem im Seidengewerbe häufig in den Gesellenstatus. Ihnen drohte sozialer Absturz. Von 765 Seidenzeugmachern legten rund zwei Drittel ihr Gewerbe vor dem Tod nieder. An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, ob nicht bei weniger kapitalintensiven Gewerben, zumal in kleineren Städten, erheblich andere Regeln galten.
Steidl ist es gelungen, aus großen Datenmengen klare Trends und Entwicklungen zu erfassen und anzusprechen, ohne Zahlenfriedhöfe zu hinterlassen. Methodisch auf der Höhe der Zeit, schlägt sie eine Schneise durch exemplarische Gewerbe der österreichischen Hauptstadt. Sie wirbt mit Erfolg für ein Bild von aktiven Handwerkern, welche die Mobilität auch für die Suche nach sozialem Aufstieg nutzten.
Wilfried Reininghaus