Alexander Moens / Lenard J. Cohen / Allen G. Sens (eds.): NATO and European Security. Alliance Politics from the End of the Cold War to the Age of Terrorism, Westport, CT: Praeger Publishers 2003, XXX + 186 S., ISBN 978-0-275-97663-7, GBP 40,75
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Die Beiträge dieses Sammelbandes widmen sich dem funktionalen und institutionellen Wandlungsprozess, dem die NATO seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes unterliegt, und in dessen Verlauf sie sich von einer Allianz zur kollektiven Verteidigung gegen einen möglichen Angriff der Sowjetunion zu einer weltweit tätigen Institution des Sicherheitsmanagements entwickelt hat.
So analysieren die Autoren, wie sie seit 1990 mittels eines breit gefächerten Instrumentariums und einer Reihe von Institutionen kooperative Beziehungen zu den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes aufgebaut und deren sicherheitspolitischen Transformationsprozess unterstützt hat. Ein Bestandteil dieses Aufgabenbündels war der 1999 vollzogene Beitritt Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik zur NATO sowie die Fortsetzung dieses Erweiterungsprozesses in den kommenden Jahren. Eine andere Komponente war der Aufbau eines kooperativen Verhältnisses zu Russland als einem der wichtigsten sicherheitspolitischen Akteure im eurasischen Raum.
Daneben wird diskutiert, wie die NATO den Wandel des Selbstverständnisses der westeuropäischen Staaten verarbeitet hat, die nach dem Ende des Kalten Krieges mehr Einfluss in den internationalen Beziehungen begehrten, mit dem Maastrichter Vertrag eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik begründeten und schließlich mit dem Amsterdamer Vertrag die Westeuropäische Union (WEU) als sicherheits- und verteidigungspolitischen Arm in die Europäische Union überführten. Dieses gewachsene Selbstbewusstsein zeitigte auch Konsequenzen für die NATO, denn seit dem Ende des Jahres 1998 verfolgt die EU den Plan einer Entwicklung autonom handelnder Streitkräfte zum Krisenmanagement. Dafür ist der Rückgriff auf militärische Kapazitäten der NATO notwendig. Auch sind von diesen Planungen diejenigen NATO-Mitglieder in besonderer Weise betroffen, die nicht EU-Mitglieder sind und eine Diskriminierung innerhalb der nordatlantischen Allianz befürchten.
Schließlich untersuchen die Aufsätze, wie der Bürgerkrieg in Jugoslawien den funktionalen Wandel der NATO befördert hat. Denn die Teilnahme der Allianz an verschiedenen Phasen der militärischen Beendigung der ethno-territorialen Konflikte markierte den Wandel von dem auf Artikel 5 des NATO-Vertrages beruhenden System der kollektiven Verteidigung hin zu einer Institution zum Krisenmanagement. Das militärische Vorgehen der NATO erzwang nicht nur politische Verhandlungslösungen für Bosnien-Herzegowina und das Kosovo, die Allianz verpflichtete sich zur dauerhaften Überwachung der erreichten Vereinbarungen und stationierte mehrere tausend Soldaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien.
Die Notwendigkeit, bei derartigen Aufgaben der Krisenintervention auch in Zukunft zusammenarbeiten zu können, hat den Druck auf die NATO-Mitglieder erhöht, das der Allianz zur Verfügung stehende Material zu modernisieren und weiter zu harmonisieren. Ziel ist es, Truppen und Material möglichst schnell in eine Krisenregion verlegen zu können und die volle Interoperabilität der beteiligten Streitkräfte sicherzustellen. Dieser kostenintensive Anpassungsprozess steht erst am Anfang und wird auf absehbare Zeit mit den budgetären Beschränkungen der NATO-Mitgliedsstaaten in Konflikt geraten.
Den vorläufig letzten Anstoß für den Wandel der NATO, den der Band thematisiert, gaben die Terroranschläge vom 11. September 2001. Gerade dadurch, dass die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den kollektiven Beistandsfall ausrief, dann aber nicht unmittelbar an den Kampfhandlungen in Afghanistan beteiligt war, wurden die existierenden Defizite offenbar: die militärische und politische Asymmetrie innerhalb des Bündnisses aufgrund der herausragenden Machtstellung der Vereinigten Staaten; europäische Akteure, die nicht die notwendigen Ressourcen für ein Handeln der NATO bereitstellen wollten und eine US-Administration, die nach den Erfahrungen der Blockade innerhalb der NATO während des Kosovo-Krieges eine zeitraubende Abstimmung in der NATO verhindern wollte und stattdessen eigenes, unbeschränktes Handeln vorzog.
Die Beiträge konstatieren angesichts dieser neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen sehr unterschiedliche Interessen der Bündnispartner, sowohl innerhalb Europas, als auch dies- und jenseits des Atlantiks. Dies betrifft zum Beispiel die Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Aufstellung einer von den USA angestrebten ballistischen Raketenabwehr oder die strategische Bedeutung der Nuklearwaffen. Die Aushandlung dieser Interessenunterschiede und die Entwicklung gemeinsamer Interessen wird eine der wichtigsten Aufgaben der NATO werden. Dennoch sehen die Autoren in der NATO weiterhin die wichtigste und wirkungsvollste Sicherheitsinstitution in Europa. Der Zusammenhalt wird, nach ihrer Meinung, zukünftig jedoch weniger eng und bindend sein.
Interessant ist insbesondere die kanadische Sicht auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen der NATO, die angesichts der dominierenden Stellung der USA auf dem nordamerikanischen Kontinent in der Forschung häufig übersehen wird. Die drei Herausgeber sind an der Simon Fraser University beziehungsweise der University of British Columbia (beide in Vancouver) tätig; insgesamt sechs der zehn Autoren arbeiten an kanadischen Universitäten oder sind im diplomatischen Dienst Ottawas aktiv; vier Beiträge untersuchen explizit die Folgen des Wandels der nordatlantischen Allianz für Kanada und die diesbezügliche kanadische Politik: Das zweitgrößte Land der Erde ist von all jenen Entwicklungen besonders betroffen, die eine Zwei-Säulen-Struktur der nordatlantischen Allianz zur Folge haben, das heißt die Herausbildung der USA und der Europäer als geschlossen handelnder und miteinander rivalisierender Akteure. Für diesen Fall muss Ottawa befürchten, weder zur einen noch zur anderen Säule zu gehören und innerhalb der NATO sowohl Gehör als auch Einfluss zu verlieren.
Markus Kaim