Kai F. Hünemörder: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950-1973) (= Historische Mitteilungen. Beihefte; Bd. 53), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 387 S., ISBN 978-3-515-08188-7, EUR 54,00
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Noch Ende der 1960er-Jahre wurden Fragen der globalen Umweltzerstörung nur in kleinen und ausgesuchten Kreisen erörtert. Zu Beginn des folgenden Jahrzehnts avancierte die Umweltfrage dann aber innerhalb kürzester Zeit zu einem der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen. Dieser rasche Aufstieg der Umweltproblematik zu einem politischen und medialen Leitthema hat Vertreter und Vertreterinnen der Umwelt- und Zeitgeschichte sowie der Soziologie und Politologie in den letzten Jahren zunehmend beschäftigt. Einen genuin historischen Ansatz verfolgt Kai F. Hünemörder, indem er in seiner Dissertation der "Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und der Formierung der deutschen Umweltpolitik" nachgeht.
Ziel seiner Arbeit ist es, "den Wahrnehmungs-, Diskussions- und Politisierungsprozess der 'Umweltkrise' in der Bundesrepublik beginnend mit den fünfziger Jahren bis 1973 chronologisch nachzuzeichnen" (12). Das Hauptgewicht der Arbeit liegt auf den letzten fünf Jahren der angezeigten Zeitspanne, in denen die "Umweltkrise" auf die gesellschaftspolitische Agenda kam. Gut die Hälfte des Buches ist diesem Bereich gewidmet. In den vorangehenden Teilen entwirft der Autor zwei verschiedene Entwicklungslinien, entlang derer der Boden für den nachfolgenden Politisierungsschub vorbereitet wurde. Zum einen untersucht Hünemörder am Beispiel des Ruhrgebiets, dem er eine Vorreiterrolle innerhalb der BRD zuweist, die Diskurse zur Luft- und Gewässerverschmutzung seit den frühen Fünfzigerjahren. Zum anderen geht er den Anstößen nach, die von außen an die BRD herangetragen wurden, insbesondere durch die USA und durch verschiedene internationale Organisationen.
Für seine Untersuchung bearbeitete Hünemörder beeindruckend umfangreiche Quellenbestände. Neben diversen Aktenbeständen aus der Bundesverwaltung und aus nordrhein-westfälischen Behörden wertete er deutschsprachige Zeitungen, Zeitschriften und Publikationen sowie Dokumente der politischen Parteien und wissenschaftliche Konferenzberichte aus.
Neue Einsichten vermittelt Hünemörders Arbeit insbesondere bezüglich der Vorreiterrolle der USA und der umweltpolitischen Bedeutung internationaler Organisation wie der UNO, des Europarats, der OECD, aber auch der NATO. In vorbildlicher Weise schildert er nicht einfach die Diskussionen in diesen Organisationen, sondern konzentriert sich speziell auf die Wege, auf denen auf internationaler Ebene erarbeitetes Wissen in nationale Kontexte transferiert wurde und umgekehrt.
Akribisch zeichnet er sodann das Aufgreifen und die Konzipierung des Umweltthemas in der bundesdeutschen Regierung und Verwaltung nach. Die Schilderung dieses Prozesses verknüpft er mit einer ebenso detailreichen und dicht belegten Darstellung der Karriere des Umweltthemas in der medialen Öffentlichkeit. Allerdings tritt in diesen Kapiteln auch eine der Schwächen des Buches zum Vorschein: die mangelnde Leserführung. Oftmals ist die Erzählung überfrachtet, sodass der oder die Lesende zwischen den vielen Programmentwürfen, Eingaben, internen und öffentlichen Stellungnahmen et cetera den Zusammenhang zu verlieren droht. Zudem machen es die zu spärlich gesetzten Zeitangaben immer wieder notwendig, Datierungen aus den Anmerkungen zu erschließen. Durch den regelmäßigen Einschub von zusammenfassenden Abschnitten sowie ein ausführlicheres Resümee im Schlusskapitel hätte die Lesefreundlichkeit mit verhältnismäßig geringem Aufwand bedeutend gesteigert werden können.
Hünemörder schließt seine Untersuchung mit der Erdölkrise Ende 1973 ab. Dieser Schlusspunkt ist meines Erachtens nicht gut gewählt. Denn nicht zuletzt Hünemörders eigene Ausführungen legen nahe, dass es sich gelohnt hätte, die folgende kurze, aber einschneidende Wirtschaftskrise mit einzubeziehen. So betont er wiederholt, welche Rolle die gute Konjunkturlage zu Beginn der 1970er-Jahre bei der Formierung der Umweltpolitik spielte. Mit dem Konjunktureinbruch 1974/75 verschärften sich die Verteilungskämpfe. Insofern bestätigte der Verlauf der Umweltpolitik die Erkenntnis, dass Reformen in einem wachsenden System politisch deutlich einfacher durchzusetzen sind, als in einem stagnierenden oder schrumpfenden. Gleichzeitig lief in diesen Jahren die Zeit der globalen Absichtserklärungen ab. Bei der Umsetzung von pauschalen Umweltschutzforderungen in konkrete Maßnahmenpakete musste politisch Farbe bekannt werden. Für die Ausgestaltung der Umweltpolitik war dies eine entscheidende Phase, in der die Möglichkeitsräume für politische Reformen stark eingeengt wurden und in der sich politische Lager bildeten und verfestigten.
Eine solche zeitliche Ausweitung hätte allerdings auch eine Erweiterung des thematischen Fokus erfordert. Der Umweltbewegung, die von Hünemörder nur kursorisch behandelt wird, hätte mehr Platz eingeräumt werden müssen. Ebenso hätte die Atomenergiefrage, an der sich die umweltpolitischen Geister im Laufe der 1970er-Jahre stellvertretend für die gesamte Umweltfrage spalteten, ausführlicher behandelt werden müssen. Überhaupt würde sich eine verstärkte Berücksichtigung der Rolle der Umweltbewegung auch für die Zeit bis 1973 anbieten. So scheint es plausibel, das im internationalen Vergleich späte Auftreten der deutschen Umweltbewegung als innenpolitische Kraft in direkter Verbindung mit der fortschrittlichen Umweltpolitik der sozial-liberalen Regierungskoalition zu sehen.
In vielen Punkten bestätigt, untermauert und ergänzt Hünemörders materialreiche Darstellung bisherige Forschungsergebnisse. Was den internationalen Kontext betrifft, erschließt sie neue Bereiche. Es ist zu hoffen, dass die Arbeit Anlass und Basis zu weitergehenden Untersuchungen im oben angesprochenen Sinne gibt. Hierbei wäre eine engere Verschränkung des Umweltthemas mit der Gesellschaftsgeschichte wünschenswert. Hünemörders Ausführungen enthalten verschiedentlich Ansätze dazu, die sich lohnten, weiter ausgebaut und gründlicher ausgearbeitet zu werden.
Patrick Kupper