Jobst Knigge: Kontinuität deutscher Kriegsziele im Baltikum. Deutsche Baltikum-Politik 1918/19 und das Kontinuitätsproblem (= Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit; Bd. 34), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2003, 122 S., ISBN 978-3-8300-1036-4, EUR 65,00
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Dass heutzutage Magister- oder Diplomarbeiten veröffentlicht werden, ist keine Seltenheit und oft genug berechtigt. Neuland dürfte dagegen Jobst Knigge mit der Publikation seiner Magisterarbeit aus dem Jahr 1969 betreten haben, die seinerzeit von Fritz Fischer in Hamburg betreut worden ist. Ein derart ungewöhnliches Verfahren erscheint nur gerechtfertigt, wenn das Thema in der aktuellen Auseinandersetzung immer noch relevant ist und die zwischenzeitlich erschienene Literatur eingearbeitet wurde.
Die Relevanz des Themas läßt sich kaum bestreiten. Zur 90. Wiederkehr des Beginns der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" ist es zweifellos wichtig darauf hinzuweisen, dass in Osteuropa dieser Krieg eben nicht mit dem Waffenstillstand von Compiègne im November 1918 endete, sondern erst so richtig entfesselt wurde, nachdem der "Frieden" von Brest-Litovsk mit der deutschen Niederlage hinfällig geworden war. Dass hieran nicht nur die Auflösung des Russischen Reiches in Revolution, Anarchie und Bürgerkrieg schuld war, sondern auch die Kontinuität der Kriegsziele deutscher Eliten, macht Knigges Studie deutlich.
Nach einem Rückblick auf die deutsche Baltikumpolitik im Ersten Weltkrieg untersucht Knigge die Haltung der verschiedenen deutschen Machtfaktoren im Reich und vor Ort im Baltikum bis Ende 1919. Danach beschreibt er summarisch den Ablauf der Ereignisse auf lettischem Boden von der Übernahme des Kommandos über das VI. Reservekorps durch General Rüdiger von der Goltz bis zur Eroberung Rigas durch die Baltische Landeswehr im Mai 1919 und zum Abzug des letzten deutschen Soldaten. Zu bedauern ist freilich, dass die Ereignisse in Estland ausgeblendet werden, wo mit dem Baltenregiment ebenfalls eine deutschbaltische Freiwilligeneinheit - allerdings unter estnischem Befehl - agierte. Hier hätte sich ein Vergleich angeboten, um die Möglichkeiten lokaler deutschbaltischer Politik ohne Einmischung des Reichsmilitärs auszuloten.
Nun ist Knigges Überzeugung, seine Ergebnisse von 1969 seien in der neueren Literatur bestätigt worden, nicht von der Hand zu weisen - zuweilen werden sie heute sogar noch deutlicher formuliert. Wenn Knigge beispielsweise zum sogenannten "Baltenputsch" in Liepāja (Libau) gegen die lettische Regierung Ulmanis im April 1919 feststellt, dass Goltz nicht daran beteiligt gewesen sei (68), so schrieb Wilhelm Lenz nach gründlichem Quellenstudium mit Recht, dass sich zwar keine aktive Unterstützung reichsdeutscher Stellen für die Putschisten nachweisen lasse - der Zusammenhang sei aber "doch zu offensichtlich". [1]
Aber ist eine Publikation schon dadurch gerechtfertigt, daß sie über 30 Jahre alte Wahrheiten wiederholt? Die Entente hatte keine konsequente Strategie dafür, wie sie mit dem Widerspruch umgehen sollte, auf der einen Seite Estland und Lettland und auf der anderen Seite die antibolschewistischen Russen zu unterstützen. Bekanntlich lehnten letztere die Existenz der beiden jungen Republiken rundweg ab. Und die deutschen Truppen, die die Alliierten als antibolschewistisches Bollwerk zunächst im Baltikum belassen wollten? Sie boten manchem deutschen Außenpolitiker oder General die willkommene Hoffnung, die deutsche Revolution aus dem Osten zu stürzen. Oder sollte gar durch ein Zusammengehen mit dem "zukünftigen" Russland - Fischers "Kontinuität der Illusionen" - der Erste Weltkrieg doch noch gewonnen werden können? Zwischen der Angst, die radikalen Freikorps wieder ins Reich zu lassen, und den zunehmenden Drohungen der Siegermächte, die den sofortigen Abzug verlangten, war die deutsche Regierung hilf- und machtlos.
Die harten Kämpfe im Baltikum waren allerdings nicht nur Fortsetzungskriege des Ersten Weltkriegs, sondern auch ein Teil des Russischen Bürgerkriegs, der hier wiederum von den nationalen Unabhängigkeitskriegen der Esten, Letten und Litauer überlagert wurde. Dass Bermondts Angriff auf Riga dem von der Entente unterstützten Angriff General Judeničs auf Petrograd um einen Tag vorausging, entgeht Knigges enger Perspektive. [2]
So bleibt das Verdienst der Arbeit, die deutsche Rolle im Baltikum erneut vorgestellt zu haben. Da jedoch nicht einmal auf die Deutschbalten genauer eingegangen wird, diese vielmehr traditionell als einseitig auf das Reich und von der Goltz ausgerichtet erscheinen, und zudem verschwiegen wird, dass sich durchaus manche deutschbaltische Stimme für eine Aussöhnung mit den Letten einsetzte (Paul Schiemann), wird Knigges Studie der wahren Komplexität der Ereignisse nicht gerecht. Eine kulturgeschichtliche Studie zu Prägungen des Krieges und zu den Milieus der Weimarer Republik, wie sie von Vejas Gabriel Liulevicius angeregt worden ist, bleibt in bezug auf den "Nachkrieg" im Baltikum ein Desiderat der Forschung. [3]
Die größte Schwäche der Studie besteht freilich darin, dass Knigge die Ergebnisse der neuesten Forschungen nur begrenzt herangezogen hat. Sie beruht zum großen Teil auf der früher benutzten Literatur, wobei er quellenkritisch nur unzureichend zwischen den Memoiren der Beteiligten (von der Goltz, Bischof, Salomon, Bermondt), sowjetischer Forschung (Sipols) oder Quellenpublikationen unterscheidet. Bereits die von ihm viel zu selten genutzten Sammelbände der Baltischen Historischen Kommission von 1971 und 1977 hätten einige Zusatzinformationen über die Komplexität der Ereignisse liefern können. [4] Genau dies, der Bezug zu den nicht-deutschen Akteuren der Kämpfe im Baltikum 1918/19, fehlt dieser Arbeit, um im Kontext der aktuellen Forschungen bestehen zu können.
Knigges Fokus mag im Jahr 1969 spannend gewesen sein. Heute ist er zu eng angelegt, um die aktuelle Forschung entscheidend voranzubringen. Zudem wäre ein Verzeichnis der benutzten Literatur sowie eine konsequentere, methodisch korrekte Zitierweise in den Anmerkungen der Arbeit formal genauso zugute gekommen wie die Aktivierung des Kästchens "Silbentrennung" im Textverarbeitungsprogramm im Hinblick auf ihre verbesserungsfähige optische Gestaltung.
Anmerkungen:
[1] Wilhelm Lenz, Deutsche Machtpolitik in Lettland im Jahre 1919. Ausgewählte Dokumente des von General Rüdiger Graf von der Goltz geführten Generalkommandos des VI. Reservekorps, in: Zeitschrift für Ostforschung 36 (1987), 523-576, 530.
[2] Karsten Brüggemann, Die Gründung der Republik Estland und das Ende des "Einen und unteilbaren Rußland". Die Petrograder Front des Russischen Bürgerkriegs 1918-1920 (= Forschungen zum Ostseeraum, 6), Wiesbaden 2002.
[3] Vejas Gabriel Liulevicius, War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity, and German Occupation in World War I, Cambridge: Cambridge University Press 2000 (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare, 9) (deutsch Hamburg 2002).
[4] Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten. Beiträge zur Entstehungsgeschichte der Republiken Estland und Lettland, hrsg. v. Jürgen von Hehn, Hans von Rimscha, Hellmuth Weiss, Band 1, 1917-1918, Marburg/Lahn 1971; Band 2, 1918-1920, Marburg/Lahn 1977. Knigge zitiert nur "Hehn/Rimscha" ohne Nennung der jeweiligen Autoren.
Karsten Brüggemann