Geoffrey de Ste. Croix: Athenian Democratic Origins and Other Essays. Ed., by David Harvey and Robert Parker, Oxford: Oxford University Press 2004, 464 S., ISBN 978-0-19-925517-7, GBP 80,00
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Das Buch enthält eine Reihe von bisher unveröffentlichten Arbeiten aus dem Nachlass des im Februar 2000 verstorbenen Oxforder Althistorikers Geoffrey de Ste. Croix, der durch unermüdliche Kritik an gängigen Forschungsthesen immer wieder lebhafte Diskussionen anregte, indem er eingefahrene Bahnen verließ und neue Wege in der Quelleninterpretation aufzuzeigen suchte. Die Aufsätze sind Paradebeispiele der Quellenkritik, wie die Herausgeber im Vorwort (2) betonen.
Im ersten Beitrag ("The Solonian Census Classes and the Qualifications for Cavalry and Hoplite Service", 5-72) setzt Ste. Croix voraus, dass die Zensusklassen (téle) mit Ausnahme der Pentakosiomedimnoi bereits als militärische und soziale Großgruppen vor Solon existierten und von ihm auf der Basis eines "barley standard" mit der Grundeinheit eines Medimnos Gerste institutionalisiert wurden. Ste. Croix ist überzeugt, dass im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus die Bürger mit dem Zensus eines Hippeus sowie die Athener der Zensusklasse der Hopliten nicht einfach mit den im Aufgebot der 'Reiter' und der Zeugiten verwendeten Dienstpflichtigen identisch waren. Ein Athener, der in der Lage war, als Reiter zu dienen, sei zwar ein Hippeus geworden, habe aber auch gegebenenfalls wegen Dienstuntauglichkeit oder aus anderen zwingenden Gründen Dispens von seinen militärischen Pflichten erhalten. Ähnlich waren nach Ste. Croix mutatis mutandis die Vorschriften für den Hoplitendienst der Zeugiten. Er folgert hieraus, dass schon in der Zeit Solons die Hippeis und die Zeugiten nicht ein bestimmtes Maß an Ernteprodukten für ihre Zugehörigkeit zu ihren Zensusklassen anzugeben hatten, sondern die Voraussetzungen für den Militärdienst als Reiter oder Hoplit erfüllen mussten. Dieser Lösungsvorschlag weist prinzipiell in die richtige Richtung. Es dürfte schwierig gewesen sein, eine Bemessungsgrundlage für Ernteprodukte zu finden, zumal die landwirtschaftlichen Erträge von Jahr zu Jahr schwankten und ein effektiver 'Verwaltungsapparat' nicht zur Verfügung stand. Ob 500 Maßeinheiten Gerste tatsächlich das Kriterium für den Status eines "Fünfhundertschefflers" waren, bleibt indes dahingestellt. Vermutlich hat die genannte Zahl eher einen symbolischen Wert als Bezeichnung für eine relativ große Menge.
Aspekte der Reformen Solons sind auch Themen der folgenden Beiträge ("Five Notes on Solon's Constitution", 73-107). Ste. Croix stellt zunächst die Frage, wann erstmals bindende Mehrheitsbeschlüsse gefasst wurden. Er hält es für möglich, dass diese wichtige Etappe auf dem Weg zur Demokratie in die Zeit vor Solon zu datieren ist (73-75). Hierbei setzt er offenbar voraus, dass die Stimmen auch ausgezählt wurden. Dies ist indes unwahrscheinlich. Fraglich ist auch, ob Solon seine Nomothesie in seinem Archontat (394/93) abschließen konnte, wie Ste. Croix annimmt (75-80). In einer weiteren Notiz postuliert er (80-83) ein Monopol der "Eupatriden" in der "Staatsorganisation" ("state machine"). Es gibt indes keine Zeugnisse aus archaischer Zeit, die einen geschlossenen 'Stand' der Eupatriden vor oder nach Solon belegen, und die Bezeichnung "state machine" impliziert die irrige Vorstellung von einer regulären 'Verfassung' Athens um 600 vor Christus. Zustimmung verdient demgegenüber, dass Ste. Croix den solonischen Rat der 400 für historisch hält, die Nachricht bei Aristoteles, Athenaion Politeia 8,1, dass Solon eine Auslosung der Archonten aus vorgewählten Kandidaten eingeführt habe, hingegen als unzutreffend bezeichnet (83-107).
In Kapitel 3 ("Solon, the Horoi and the Hektemoroi", 109-128) erörtert er eines der schwierigsten Probleme der Reformen Solons in zwei längeren Briefen an Anthony Andrewes aus den Jahren 1962 und 1968. Er verdeutlicht die Komplexität der Thematik und hält es für möglich, dass zahlreiche Hektemoroi nach der Schuldentilgung (Seisachtheia) in die Hoplitenschicht aufstiegen und der Zwang, das athenische Aufgebot für die Phalanx zu verstärken, die Oberschicht veranlasste, den Reformen zuzustimmen. Dass die Anschaffung einer Hoplitenrüstung auch eine Prestigefrage war und mancher Landbesitzer sich verschuldete, um die betreffenden Waffen zu erstehen, ist durchaus möglich. Das Ausmaß der Verschuldung attischer Bauern sollte aber nicht überschätzt werden. Ste. Croix misst Solons eindringlichen Warnungen vor einer Tyrannis zu geringe Bedeutung bei. Solon sah die Machtkämpfe innerhalb der Führungsschicht Athens als große Bedrohung seiner Polis, und die Furcht vor einer Tyrannis hat zweifellos einen beträchtlichen Teil seiner Standesgenossen veranlasst, seine Reformen zu unterstützen.
Thema weiterer Abhandlungen (129-228) sind die Reformen des Kleisthenes. Sehr ausführlich nimmt Ste. Croix zur Frage einer kleisthenischen "Verfassung" ("constitution") Stellung (136-172), doch ist der Verfassungsbegriff hier missverständlich. Kleisthenes hat keine 'Verfassung' im modernen Sinne geschaffen. Dies schließt freilich nicht aus, dass seinen Reformen ein durchdachtes Konzept zu Grunde lag, wie Ste. Croix annimmt. Er argumentiert aber teilweise recht unbedenklich, indem er die attischen géne als "clans" versteht (147) und die These vertritt, dass Kleisthenes anstelle eines Systems von Phylen und Phratrien, das weithin auf der Fiktion von Verwandtschaftsbeziehungen basierte, eine rein territoriale Gliederung des Bürgerverbandes einführte (138 f.). Sowohl die vier alten 'ionischen' als auch die zehn neuen kleisthenischen Phylen waren aber in erster Linie Personenverbände, während die géne der archaischen Zeit keine Familien übergreifenden Geschlechterverbände, sondern kultische Vereinigungen waren und keinesfalls mit "clans" zu vergleichen sind. Ste. Croix betont aber mit Recht (144), dass die neuen Phylen jeweils eine repräsentative Sektion der athenischen Bürgerschaft bildeten. Diese Einteilung hatte nicht nur das politische Ziel einer Einbindung der Ratsmitglieder aus allen Teilen Attikas in die Entscheidungsfindung. Die Phylenreform war auch für die Aufgebotsordnung von großer Bedeutung, denn die neuen taxeis ("Regimenter") der Hopliten sollten offensichtlich annähernd gleich groß sein.
Im 2. Teil des "Kleisthenes-Kapitels" (180-228) sucht Ste. Croix zunächst zu zeigen, dass der Ostrakismos nicht erst 488 vor Christus, sondern bereits von Kleisthenes und den ihn stützenden Kreisen als Reaktion auf die Krise unmittelbar vor den Reformen 508/07 eingeführt und in der altertumswissenschaftlichen Forschung vielfach zu negativ bewertet wurde. Er betrachtet das Quorum von 6000 'Stimmen' als hohe Barriere für eine Ostrakophoria, die allem Anschein nach vor allem Stasisbildungen entgegenwirken und politische Auseinandersetzungen entschärfen sollte. Des Weiteren behandelt er zur Ergänzung seiner Ausführungen über Kleisthenes die Reformen von 487 vor Christus, die nicht als 'demokratisch' einzustufen sind, wie er mit Recht bemerkt (217). Sein Hauptargument lautet, dass eine Auslosung aus 'Vorgewählten' nur dann demokratisch gewesen wäre, wenn nicht nur Pentakosiomedimnoi und Hippeis, sondern alle Bürger als amtsfähig gegolten hätten. Er ist des Weiteren der Auffassung, dass die Einführung dieses Verfahrens Teil einer umfassenderen Reform war, die letztlich darauf abzielte, die Strategen als höchste Behörde zu konstituieren (223). Dies bleibt freilich spekulativ, wenn auch das Strategenamt in der Folgezeit zunehmend an Bedeutung gewann.
Unvollendet geblieben ist eine Stellungnahme von Ste. Croix zu dem von Perikles beantragten Bürgerrechtsgesetz 451 vor Christus. Er vermutet, dass eine allzu rasche Vergrößerung der Bürgerzahl verhindert werden sollte (233-251). Angesichts der athenischen Verluste im Verlauf der Ägyptischen Expedition ist dies wenig wahrscheinlich. Offenbar sollte erreicht werden, dass öffentliche Funktionen nur von Männern ausgeübt wurden, die väter- und mütterlicherseits aus athenischen Familien stammten.
Mehrere Notizen zum Quellenwert der unter dem Namen des Aristoteles überlieferten 'Athenaion Politeia' und zu verschiedenen Nachrichten über die politische Organisation Athens in der 'Politik' des Aristoteles bilden den Kern der Kapitel 7 und 8. Ste. Croix zweifelt nicht, dass Aristoteles die 'Athenaion Politeia' verfasst hat, und hält es für unbewiesen, dass Androtion die Hauptquelle für diese Schrift gewesen sei (277 f.). Er ist überzeugt, dass Aristoteles Primärquellen ('Urkunden') benutzte, räumt aber ein, dass wir nicht wissen, ob Aristoteles tatsächlich "documentary sources" wie die Axones Solons im Original auswerten konnte (317-322).
Eine kurze Interpretation der Reflexionen des Aristoteles in der 'Nikomachischen Ethik' (1134b35-1135a3) über unterschiedliche Maßeinheiten leitet über zu einer Abhandlung über das kontroverse Problem, inwieweit die frühe griechische Kolonisation durch Handelsinteressen initiiert wurde (349-367). Ste. Croix geht davon aus, dass griechische Poleis in aller Regel sich nicht um kommerzielle Interessen ihrer Bürger kümmerten und lediglich einen ausreichenden Import fehlender Produkte zu garantieren suchten, ohne eine ausgeglichene Handelsbilanz oder ein Handelsmonopol anzustreben oder Kriege zur Gewinnung neuer Märkte zu führen. Diesbezügliche Zeugnisse für das 5. und 4. Jahrhundert vor Christus haben nach seiner Meinung auch für die archaische Zeit Geltung. Griechische Kolonisten hätten sich durchweg an Plätzen mit fruchtbaren Landgebieten angesiedelt. Al Mina und Naukratis seien als Ausnahmen zu werten. Allerdings möchte Ste. Croix es offen lassen, ob dies auch für Kyme (Cumae) sowie für Kolonien galt, die den Namen "Emporion" erhalten haben. Er kommt letztlich zu dem Schluss, dass in vielen Fällen griechische "merchants" ein emporion einrichteten, in dem sie sich nur phasenweise aufhielten, bis nach einiger Zeit auch Kaufleute und Handwerker sich dauerhaft niederließen und dann ein Oikistes zur Gründung einer Polis angefordert wurde. Inzwischen haben archäologische Forschungen ergeben, dass in Unteritalien und Sizilien erste Siedler sich nicht in großen Scharen niederließen. Sie waren allerdings wohl kaum 'Kaufleute' im engeren Sinne, sondern eher gefolgschaftlich organisierte Gruppen oder Verbände, die natürlich auch auf Warenaustausch mit Indigenen angewiesen waren. Wenn sie schließlich dauerhaft blieben, konnten sie auf eine landwirtschaftliche Nutzung der Umgebung ihres Platzes nicht verzichten.
Eine unvollendete Studie zur Wirtschaftsstruktur Aiginas ("But what about Aegina?", 371-411) ist in gewisser Weise zugleich ein Beitrag zur so genannten Jahrhundertdebatte über die Typisierung der antiken Wirtschaft. Als bereits Max Webers Polemik gegen falsche Alternativen in den Thesen der 'Primitivisten' und der 'Modernisten' aus der Sackgasse zu führen schien, in die schon längst die Diskussionen geraten waren, wurde der Streit von Johannes Hasebroek neu entfacht, indem er die Polisstruktur als Hemmschuh für eine Ausweitung von Produktion und Verbrauch wertete. Ste. Croix steht gleichsam noch auf der Seite der 'Primitivisten', wenn er zu zeigen sucht, dass die führende Schicht auf Aigina keine "Kaufmannsaristokratie" ("mercantile aristocracy") war, sondern eine kleine Gruppe von Landbesitzern. Er beruft sich vor allem auf Epinikien Pindars, in denen einige Aigineten so genannten pátrai zugeordnet werden. Diese Verbände deutet Ste. Croix als géne oder Clans. Insofern geht er noch von einer älteren Forschungsthese aus, die pátra als dorisches Äquivalent für génos deutete. Inzwischen hat Denis Roussel [1] überzeugend dargelegt, dass pátra in Aigina eine patrilineare Ahnenreihe bezeichnete. Zudem war ein genos - wie gesagt - bereits in archaischer Zeit eine kultische Vereinigung. Im Übrigen unternahmen schon in homerischer Zeit Grundbesitzer auch sporadisch Handelsfahrten (Odyssee 1,184). Ein gewisser Grundbesitz war sicherlich die Voraussetzung für die Ausrüstung eines Schiffes und die Anwerbung der Mannschaft. Wer hierzu in der Lage war, konnte durch einzelne Expeditionen überaus großen Reichtum gewinnen, wie das von Herodot (4,152,3) erwähnte Beispiel des Aigineten Sostratos zeigt.
Ein wichtiges Ereignis der Geschichte Aiginas wird im letzten Beitrag gestreift, in dem Ste. Croix zeigen will, dass Herodot ein verzerrtes Bild von Kleomenes I. von Sparta zeichnet (421-438). Ste. Croix ist der Auffassung, dass der König 490 vor Christus durch seine Intervention in Aigina die Entstehung einer persischen Flottenbasis auf der Insel verhinderte und hierdurch Athen vor dem Zugriff der Perser rettete. Unbegründet ist freilich die von Ste. Croix geäußerte Vermutung, dass Kleomenes den Heloten 'Versprechungen' gemacht habe.
Die einzelnen Beiträge enthalten nicht nur eine Fülle von Informationen über umstrittene Probleme der Geschichte Athens und anderer Poleis, sondern bieten auch einen guten Einblick in den Forschungsstand, von dem Ste. Croix zwischen 1960 und 1970 ausgehen konnte. Die Herausgeber haben sich sehr viel Mühe gegeben, um zahlreiche Literaturangaben und weiterführende Hinweise auf neuere Untersuchungen zu den behandelten Themen zu liefern sowie durch kompetente Spezialisten "afterwords" anfertigen zu lassen. Das Buch gehört in jede altertumswissenschaftliche Bibliothek.
Anmerkung:
[1] D. Roussel: Tribu et cité, Paris 1976, 107, Anm. 3.
Karl-Wilhelm Welwei