Rezension über:

Birthe Kundrus / Beate Meyer (Hgg.): Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne - Praxis - Reaktionen 1938-1945 (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus; Bd. 20), Göttingen: Wallstein 2004, 271 S., ISBN 978-3-89244-792-4, EUR 20,00
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Rezension von:
Edith Raim
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Edith Raim: Rezension von: Birthe Kundrus / Beate Meyer (Hgg.): Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne - Praxis - Reaktionen 1938-1945, Göttingen: Wallstein 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/7071.html


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Birthe Kundrus / Beate Meyer (Hgg.): Die Deportation der Juden aus Deutschland

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Obwohl die Deportationen aus dem Reich einer der augenfälligsten Bestandteile der Judenverfolgung und -vernichtung waren, hat sich die Forschung wenig mit diesem Thema befasst. Lange Jahre war H.G. Adler der einzige, der in der Studie "Der verwaltete Mensch" aus dem Jahr 1974 die Verschleppungen analysierte. Seit den 1990er-Jahren sind diese wieder stärker in den Blickpunkt des Interesses gerückt.

Einen Überblick über die Forschungssituation liefert der vorliegende Band, in dem sich sieben Autoren mit verschiedenen Aspekten der Deportation der Juden aus dem "Altreich" beschäftigen: Wolf Gruner diskutiert den Forschungsstand und die Entwicklung der Deportationen seit 1938, Frank Bajohr analysiert anhand von geheimen NS-Stimmungsberichten die Haltung der deutschen Bevölkerung, und Christiane Kuller stellt die Verwertung des jüdischen Vermögens durch die Reichsfinanzverwaltung in den Vordergrund ihrer Untersuchung. In weiteren vier Beiträgen stehen die Opfer der Deportation im Mittelpunkt: Beate Meyer befasst sich mit den Handlungsmöglichkeiten jüdischer Funktionäre angesichts der Verschleppungen, Monica Kingreen stellt die letzten Zeugnisse hessischer Deportationsopfer zusammen, Robert Kuwalek analysiert die letzten Monate der Betroffenen an den Zielorten in den Transitghettos des Distrikts Lublin, und Beate Kosmalas Beitrag zeigt die Versuche von Berliner Juden, sich der Verschleppung durch Flucht zu entziehen.

Als die zunächst auf Massenemigration gerichtete antisemitische Politik der Nationalsozialisten ihre Grenzen erreicht hatte, wurde sie 1938 durch Kollektivausweisungen von Juden aus dem Reich abgelöst. Der Krieg forderte eine Neukonzeption, die in obskuren Judenreservatsplänen (Nisko, Madagaskar) und der damit verbundenen Deportation von mehreren tausend Juden ihren Ausdruck fand. Schon hier, so Gruner, sei ein mörderisches Potenzial erkennbar gewesen, noch bevor die Deportationen sich mit dem Völkermord verschränkten. Angesichts der Darstellung der Kontinuitäten geht allerdings der Blick für die Brüche etwas verloren. Erst der Überfall auf die Sowjetunion und die damit einhergehende Ermordung der sowjetischen Juden durch Einsatzgruppen eröffneten eine völlig andere Perspektive für die Deportationen aus dem Reich im Herbst 1941. Zwar heißt es in dem Band (Editorial, 13, Kosmala, 137), dass die Deportationen im Herbst 1941 nicht mit dem Ziel der Vernichtung in Gang gesetzt worden seien. Jedoch weisen die Umstände auf eine Endgültigkeit hin, die den vorherigen Transporten abging: die schiere Dimension (die nicht wie vorher tausende, sondern mehrere zehntausende Menschen betraf), die vorherige vollständige Enteignung der Opfer, die Verbringung in Gettos, deren frühere Bewohner massenhaft ermordet worden waren und wo laufend weitere Erschießungen stattfanden, ebenso wie die räumliche Nähe zu Vernichtungslagern (Kulmhof bei Lodz).

Durch die Konzentration auf die Beschlüsse in Berlin bleiben die Entscheidungen vor Ort weitgehend unberücksichtigt. Da die Juden aus dem Reich an den Zielorten in die Einflussbereiche eines Personenkreises (SS- und Polizeiführer, Kommandeure der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes) gerieten, der seit Monaten mit wenig anderem als dem Mord an den sowjetischen Juden befasst war, stand das Weiterleben der Verschleppten unter denkbar schlechtesten Vorzeichen, wie auch angesichts der 6000 sofort nach ihrer Ankunft in Kaunas und Riga ermordeten deutschen Juden deutlich wird. Die Deportationen seit Herbst 1941 waren - anders als die vorausgegangenen - die notwendigen Prämissen des (schließlich europaweiten) Massenmordes, ja, ein "point of no return" (Bajohr, 194), mit dem sich die NS-Regierung auf eine Politik festlegte, die keine Umkehr erlaubte. Schon Zeitgenossen formulierten - unabhängig von etwaigen in Berlin gefällten Entscheidungen - ihre Interpretation der Verschleppungen. Der Polizeihauptmann Salitter konstatierte in seinem Bericht vom 26.12.1941 über die von ihm begleitete Deportation rheinischer Juden, dass die Letten sich wundern würden, warum Deutschland die Juden "nach Lettland bringt und sie nicht im eigenen Lande ausrottete". Dass auch viele nichtjüdische Deutsche nicht mit einer Rückkehr der Abtransportierten rechneten, zeigt der Fall der 21-jährigen Edith Meyer aus Langenfeld. Sie war mit dem von Salitter geführten Transport nach Riga gebracht worden, wo ihr dank der Hilfe ihres nichtjüdischen Verlobten die Flucht aus dem Getto gelang. Als sie Ende April 1942 in Solingen-Ohligs nach ihrer dort bei Deutschen untergebrachten Aussteuer fragte, verweigerten diese die Herausgabe. Um sich der lästigen Rivalin um Wäsche und Porzellan zu entledigen, wurde die flüchtige Jüdin denunziert. Sie kam in einem KZ um (Wuppertal 5 Js 554/48, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf - Zweigarchiv Schloss Kalkum Gerichte Rep. 5/1275).

Um die Verteilung der letzten Habe geht es auch in dem Beitrag von Christiane Kuller. Obwohl durch die vorangegangene "Arisierung" die Deportationsopfer meist verarmt waren, blieben Wertpapiere, Bankkonten und Immobilien sowie Gebrauchsgegenstände zurück, die "verwertet" werden konnten. Christiane Kuller macht anhand des Beispiels Nürnberg deutlich, wie Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beziehungsweise örtliche Gestapo und Reichsfinanzverwaltung in diesem Verteilungsprozess rivalisierten, wobei Möbel und Wertsachen durch das Oberfinanzpräsidium verwertet wurden, Grundstücke dagegen durch die "Arisierungsstelle für Grundbesitz", die von der Gestapo kontrolliert wurde. Auf Grund der Entmachtung der NSDAP-Gauleitung in Nürnberg 1939/1940 gelang es der NSDAP - im Gegensatz zu anderen Orten - nicht, sich stark zu bereichern. Der weitaus größte Teil "arisierten" Vermögens kam vor allem in Nürnberg, zu geringeren Teilen auch in Bayern insgesamt, in private Hand. Rekonstruierbar ist die Rolle der Finanzbehörden im Dritten Reich erst auf Grund jüngst zugänglich gewordener Akten.

Beate Meyer geht anhand der Beispiele Frankfurt, Nürnberg und Mainz den Handlungsspielräumen jüdischer Funktionäre im Spannungsfeld zwischen Gestapo und NSDAP-Dienststellen nach, wobei Frankfurt als Beispiel für eine besonders radikale Umsetzung der Judenpolitik angeführt wird, während es in Nürnberg der jüdischen Kultusgemeinde gelungen sei, sich die Rivalität zwischen NSDAP-Gauleitung und Gestapo zu Nutze zu machen. (74-75). Die Differenzierungen muten fast aufgesetzt an, da sich die Nürnberger Beispiele in weiten Teilen vor allem um Machtspiele zwischen Gestapo und NSDAP (überdies zum Zeitpunkt lange vor den Deportationen!) drehen, in denen die Juden lediglich Spielball waren, auch wenn dies in den Memoiren jüdischer Funktionäre anders dargestellt sein mag. Das Ergebnis war letzten Endes identisch: Nürnberg wies mitnichten eine höhere Quote von nicht Deportierten oder Überlebenden auf. Eine Erklärung für den Wandel der Gestapoleute, bei denen die Juden 1939/1940 vor Übergriffen der fanatischen NSDAP-Gauleitung Schutz gesucht hätten, zu Tätern, die sich ihrerseits 1941/1942 zu Misshandlungen und Schikanen beim Abtransport hinreißen ließen, sieht die Autorin in dem brutalisierten antisemitischen Klima (64). Hier vermengt sie aber einerseits Ereignisse, die sich in Würzburg abspielten, mit denen im Sammellager Nürnberg-Langwasser und ignoriert andererseits den Nürnberger Sondergerichtsprozess gegen den Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde von 1939-1942, Leo Katzenberger, vom 13. März 1942, der ihre These weiter unterminiert und Behauptungen wie "Die drei führenden Repräsentanten der Nürnberger Juden der Jahre von 1941 bis 1945 überlebten" (78) ad absurdum geführt hätte. Die Machtlosigkeit jüdischer Funktionäre demonstriert auch die Deportation der Ehefrau Klara (Claire) Katzenberger am 25. März 1942 nach Izbica.

Verdienstvoll ist Robert Kuwaleks Beitrag über die deutschen Juden in den Gettos des Distrikt Lublin und deren Zusammenleben mit den polnischen Juden, ein Thema, das von der Forschung bislang kaum beachtet wurde. Kuwalek erschließt für die deutschen Leser polnische Forschungsliteratur und versucht, den Mangel an Quellen durch Interviews mit überlebenden polnischen Juden und Polen zu kompensieren. Auch Monica Kingreen und Beate Kosmala benutzen Zeitzeugenberichte. Letztere arbeitet heraus, wie sich 1942/1943 verbreitende Gerüchte über die Tötung der Opfer die Bereitschaft der Juden erhöhte, sich durch Flucht der Verschleppung zu entziehen. Trotz allem blieb die Illegalität ein Schlupfloch, das nur den allerwenigsten deutschen Juden offen stand: lediglich 8 Prozent aller 1941 in Berlin wohnenden Juden wagten diesen Schritt, in vielen anderen Städten im Reich waren auf dem Höhepunkt der Berliner Fluchtbewegung im Februar 1943 die Deportationen aber bereits im wesentlichen abgeschlossen. Von den Berliner Untergetauchten gelang es wiederum nur einem Viertel, im Untergrund zu überleben.

Aufschlussreich ist der Beitrag von Frank Bajohr, der zeigen kann, dass die deutsche Bevölkerung durchaus vielfältig auf die Verschleppungen reagierte (188). Nach der Kriegswende 1943 fanden Schuldbewusstsein und Scham ihren Ausdruck in der irrationalen Verknüpfung der Deportationen mit dem Bombenkrieg, der nun als Strafe für die von den Deutschen praktizierte Judenverfolgung gesehen wurde.

Beeinträchtigt wird die Lektüre des sehr lesenswerten Bandes durch einige Flüchtigkeitsfehler. Weder die Datierung der Deportation auf dem Titelbild (7.12.1942, richtig ist der 24.3.1942) noch die Lokalisierung (Würzburg, richtig ist Kitzingen) stimmen. Ein weiteres Foto aus dem Würzburger Gestapoalbum wird von den Autoren sinnentstellend interpretiert (Meyer, 84, Kuwalek, 120). Angesichts der Seltenheit von Deportationsfotos und dem Wissen, dass es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um die letzten Fotos der todgeweihten Menschen handelt, wäre hier ein besonders sorgfältiger Umgang wünschenswert gewesen.

Edith Raim