Dieter Groh / Michael Kempe / Franz Mauelshagen (Hgg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (= Literatur und Anthropologie; Bd. 13), Tübingen: Gunter Narr 2002, 434 S., ISBN 978-3-8233-5712-4, EUR 49,00
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Dieser Sammelband ist Ergebnis einer Tagung, die im November 2000 in Konstanz stattfand. Seine der Einleitung folgenden 18 Beiträge erkunden mit der historischen Naturkatastrophenforschung ein Feld, das erst seit wenigen Jahren nennenswerte Beachtung in der Historiografie findet. Die hier nicht alle im Einzelnen vorzustellenden Aufsätze reichen von der Antike bis zur Gegenwart und setzen einen thematischen Schwerpunkt im europäischen Kulturkreis, ohne die außereuropäischen Gebiete völlig aus dem Blick zu verlieren. Namens-, Orts- und Sachregister, die dem Leser eine rasche Orientierung und Detailsuche ermöglichen, runden alles ab.
In der Einleitung stellen die Herausgeber zunächst den Forschungsgegenstand vor, der schwer zu fassen ist: Welche Kriterien machen ein extremes, gelegentlich zufälliges und vielfach unvorhergesehenes Ereignis in der Natur zu einer "Naturkatastrophe"? Ein rein "intuitives Verständnis davon, was unter einer Naturkatastrophe zu verstehen sei", sei Ausgangspunkt der historischen Naturkatastrophenforschung, so die Herausgeber (15). Nur jene Natur- und Extremereignisse sind von Belang, die einen tatsächlichen Effekt auf den Menschen hatten, womit sie den Akzent des Bandes auf der Wahrnehmung, Deutung und Darstellung solcher Ereignisse begründen.
Die Beiträge selbst sind in fünf größere Themenblöcke zusammengefasst. Der erste Komplex vereint sechs Aufsätze im Bereich "Kognitive Bewältigung - Deutungsmuster". Holger Sonnabend - ein ausgewiesener Experte für antike Naturkatastrophen - bietet einen knappen Einstieg in das Thema. Deutlich werden vor allem der antike Deutungshorizont von Naturkatastrophen als Zeichen oder Strafe der Götter sowie die nötige Quellenkritik bei der Analyse vermeintlich realitätsnaher Schilderungen. Zugleich liefert er ein Beispiel dafür, wie bestimmte Schichten die Darstellung von Naturkatastrophen oft zur Durchsetzung ihrer Interessen instrumentalisierten. Die Deutungen von Naturkatastrophen konnten dabei von unterschiedlichster Qualität sein und waren im Laufe der Jahrhunderte Wandlungen unterworfen. Trotzdem wird bei der Lektüre klar, dass die straftheologische Interpretation einen besonderen Platz einnahm: Auch wenn Manfred Jakubowski-Tiessen in seiner Abhandlung über Sturmfluten ein Nebeneinander verschiedener Deutungen unterstreicht, zieht sich die religiöse Interpretation einer Naturkatastrophe als Gottesstrafe wie ein roter Faden durch die Beiträge. Freilich trafen Naturkatastrophen nicht nur auf vorhandene Denkweisen und wurden durch diese gedeutet; sie konnten diese umgekehrt auch formen und verändern, was Mischa Meier für das Byzanz des 6. Jahrhunderts überzeugend nachweisen kann. Erst im 20. Jahrhundert traten höhere Mächte hinter die Vorstellung von einer sich am zerstörenden Menschen rächenden Natur zurück, wie Jens Ivo Engels für das Nachkriegsdeutschland zeigt.
Im dritten Abschnitt "Bilder der Erschütterung - erschütterte Bilder" werden sodann die Medien analysiert, die aus einem extremen Naturereignis überhaupt erst eine Katastrophe machen, indem sie es visualisieren. Die Beiträge führen die unterschiedlichen Möglichkeiten der bildlichen Darstellung unmittelbar vor Augen. Die Aufsätze von Bruno Weber und Peter Geimer thematisieren dabei das Phänomen der Vorher-Nachher-Bilder. Diese stellen das Intakte und das Zerstörte einander gegenüber und setzen dadurch den Betrachter mitten in das Geschehene (258). Im Fernsehen haben Naturkatastrophen schon lange einen festen Platz. Durch Live-Bilder entsteht hier der Eindruck, die Ereignisse könnten authentisch festgehalten und ihre Kontingenzen quasi umgangen werden. Diese These Kracauers modifiziert Kay Kirchmann in seiner Untersuchung einer Guido-Knopp-Produktion: Sie dokumentiert trotz fehlenden Filmmaterials das Erdbeben von San Francisco 1906 durch Inszenierungstricks und wird so zur reinen Selbstdarstellung des Mediums.
Dass Naturkatastrophen zu gesellschaftspolitischen Zwecken funktionalisiert werden, zeigt insbesondere der vierte Themenbereich "«Kampf» mit der Natur - Integrationsprozesse". Einem Ereignis der jüngsten deutschen Geschichte widmet sich der Beitrag über die Oderflut von 1997. Das Schlagwort vom "Jahrtausendhochwasser" ist nur ein Beispiel ihrer metaphorisch-medialen Verarbeitung. Mittels einer Metaphernanalyse weist Martin Döring nach, dass die Flut in Medien und Sprachgebrauch eindeutig im Zusammenhang mit dem Integrationsprozess zwischen den beiden wiedervereinten Teilen Deutschlands funktionalisiert wurde: Der gemeinsame Kampf gegen das Wasser machte "den abstrakten politischen Prozeß der Wiedervereinigung" (303) sinnlich erfahrbar und legitimierte diesen zugleich. Vergleichbares geschah in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Dort banden nicht wie in anderen europäischen Staaten Kriege und Revolutionen das Volk zur Einheit zusammen, sondern Hochwasser und Bergstürze übernahmen integrative Funktionen auf dem Weg zum Nationalstaat. Die Krisenkommunikation und die Solidaritätsbekundungen erweiterten den nationalen Raum, machten ihn erfahrbar und schrieben ihn schließlich fest (Christian Pfister).
Die Beiträge im fünften und letzten Themenkreis "Chaos versus Ordnung" zeigen, wie Naturkatastrophen wiederum bestehende kulturelle Bezugssysteme infrage stellen können. Eindrucksvoll schildert Stefan Siemer das Eindringen der Wildnis in die Stadt, auch wenn hier der Begriff "Naturkatastrophe" an seine Grenzen stößt: Eine Wolfsplage suchte Paris am Ende des 100-jährigen Krieges heim und versetzte die Bewohner in Angst und Schrecken. Die regelmäßigen Überschwemmungen Petersburgs bis 1824 (Thomas Grob / Riccardo Niccolosi) tragen dann schon wieder eher Züge eines "intuitiven Verständnisses" von Naturkatastrophen. Den Ausgangspunkt der Interpretation bildet hier die Auflösung des Gegeneinanders von Natur (= Chaos) und Gesellschaft (= Ordnung), das durch das in die Stadt schwappende Wasser ins Wanken kam. Dass der Mensch sich freilich dem "Chaos" anpassen kann, zeigt Thomas Hauschilds ethnologische Studie eines dicht besiedelten Erdbebengebietes Süditaliens: Dort existiert eine Volkskultur, die mit der immer wiederkehrenden Zerstörung lebt.
Insgesamt erfasst der vorgestellte Band eine große Breite an unterschiedlichen Zugangsweisen zu den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Naturkatastrophen. Dies ist seine Stärke und Schwäche zugleich. Dem Leser wird einerseits ein facettenreiches, bislang wenig erforschtes, aber Ertrag versprechendes Feld vorgestellt. Andererseits bleiben gerade beim Blick auf den bisher ausgesparten zweiten Themenblock des Bandes "Miasmen und Konstellationen" auch Zweifel zurück: Reicht das Argument aus, Pest sei über Jahrhunderte zu den Gottesstrafen gerechnet worden, um die Epidemie in den Untersuchungsradius einzuschließen? Und weist allein die Miasma-Theorie, welche die Syphilis auf durch eine bestimmte Planetenkonstellation vergiftete Luft zurückführt, diese Krankheit als Naturkatastrophe aus? Das Untersuchungsspektrum wirkt hier doch etwas überspannt und es fällt schwer, Pest und Syphilis als Teil des Kanons einer zukünftigen historischen Naturkatastrophenforschung auszumachen.
Katrin Knäusel