Jörg Probst: Adolph von Menzel. Die Skizzenbücher. Sehen und Wissen im 19. Jahrhundert (= humboldt-schriften zur kunst- und bildgeschichte; Bd. 2), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2005, 204 S., 83 Abb., ISBN 978-3-7861-2390-3, EUR 34,50
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Das Berliner Kupferstichkabinett beherbergt 6000 Zeichnungen des Realisten Adolph Menzel, davon etwa 4000 in Skizzenbüchern zusammengestellte. Dass dieser Bestand bislang meist nur kursorisch gesichtet und beschrieben wurde, ist ein Manko, das der Autor der vorliegenden Studie zu beheben sucht. Auch Probst verfolgt dabei nicht etwa die Absicht, einen Bestandskatalog zu liefern. Gott behüte! Eher im Gegenteil. In seiner sprachlich überzeugenden, ja brillanten, eher als großer Essay denn als typische akademische Qualifikationsschrift konzipierten Dissertation geht es um exemplarische Schneisen, die er in den monumentalen Bestand schlagen will, um signifikante Spektren von Themen und Zugangsweisen, um eine radikale Form von realistischem Zugriff, der den Glanz und die Tragik Menzels ausgemacht hat.
Grundüberzeugung des Autors ist es, dass die Skizzen erst dann wirklich ihr Geheimnis offenbaren, wenn man sie weniger als Kunstwerke denn als Medien der Wissensproduktion begreift. "Zu sehr, so scheint es, ist das Gespräch über Realismus bislang vor allem im engeren Kontext der Ästhetik und Kunstgeschichte befangen" (12). Die Verwandtschaft von Naturwissenschaft und künstlerischer Praxis zu benennen, daran ist ihm gelegen (18). Ästhetische Kriterien scheinen Probst daher zu kurz zu greifen - was ihn aber nicht davon abhält, zumindestens manchen der Zeichnungen einen "unverwechselbaren ästhetischen Reiz" zuzubemessen (74). Mit dieser Ausgangsthese fügt sich Probst auf originelle Weise in die Ansätze einer vor allem von seinem Lehrer Horst Bredekamp vertretenen historischen Bildwissenschaft ein. Originell insofern, als er eine Umkehrung von dessen Programmatik vornimmt, neben den Bildern der Kunst verstärkt auch andere Bilder in die bildwissenschaftliche Untersuchung einzubeziehen. Denn genau das tut Probst, wenn er Bilder eines Künstlers als Bilder der Weltaneignung, und eben nicht in erster Linie der Kunst versteht.
Gegen das geläufige Generalverdikt, Menzel sei ein nimmersatter "Imagophag" gewesen, zielt Probst darauf ab, die Logik seiner Vorgehensweise zu beschreiben, ihn - wie er in Abwandlung eines Luhmannschen Diktums sagt - bei der "Technik des Beobachtens (zu) beobachten" (14). Signifikant scheinen ihm hier vor allem Phänomene wie zeichnerische Bannungen von extrem kurzzeitigen Momenten ("Das Auge als Kamera"), die dann erst später zur Domäne der Fotografie wurden; das "Durchexerzieren" - so eine Originalausdruck Menzels - von komplexen Gegenständen, die der Künstler aus verschiedensten Beobachtungswinkeln aufnimmt; das Studium subtilster tierischer Bewegungen wie in dem bei Probst einführend analysierten Blatt mit den Erscheinungsweisen der Stubenfliege, in der es dem Zeichner sogar gelingt, das sich auf den Abflug vorbereitende Insekt mit seiner spezifischen Flügelstellung abzubilden, ohne dass man als Betrachter genau benennen könnte, worin diese Spezifikum denn eigentlich besteht; und zuallererst: die Thematisierung von marginalen Gegenständen und Momenten, die den Künstler als, man könnte sagen: antipathetischen Positivisten auszeichnen. Das subversive Moment einer Disposition, die selbst bei welthistorisch herausgehobenen Gelegenheiten dazu neigt, extreme Randphänomene in den Mittelpunkt zu rücken, dürfte mit dazu beigetragen haben, dass das Lob der preußischen Gesellschaft für Menzel einigermaßen hohl geklungen hat. Was konnte diese mit einem skurrilen Zeitgenossen anfangen, der beim Besuch des spektakulären Rheinfalls von Schaffhausen irgendeine Randfigur registriert und nicht den Wasserfall selber, und der - um hier ein bekanntes Beispiel aus seiner Malereiproduktion aufzurufen - bei der Abreise Königs Wilhelms nach Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg dessen Ehefrau mit einem riesigen, die Physiognomie fast vollständig verdeckenden Taschentuch beim Schnäuzen (oder Winken?) aufnimmt?
Bei der geschilderten Programmatik liegt es nahe, dass Probst das eigentümliche Menzelsche Unterfangen nicht in einen kunsttheoretischen, sondern eher naturwissenschaftlichen und soziologischen theoretischen Zusammenhang stellt. Hier allerdings muss doch auch ein wenig kritisiert werden, dass die essayhafte Anlage diese Zusammenhänge sehr kursorisch erscheinen lässt. Die Nähe zu Helmholtz will man gerne glauben, aber die gelieferten Belege scheinen doch nicht eben schwer zu wiegen. Simmels Psychologie der städtischen Wahrnehmung hat ebenfalls ganz sicherlich etwas mit Menzels skurrilen Entpathetisierungsstrategien zu tun (144). Aber wie genau? Und warum heißt es dann: "Doch zur Bewertung sind weder soziologische noch ästhetische Maßstäbe geeignet" (37)? Und des Zeichners Vergleichgültigungsbestrebungen (84, 130, 138) haben sicherlich etwas mit Schopenhauers Vorstellungsbegriff zu tun. Aber man traut dem Verfasser der Arbeit doch zu, dass er hier mit seinen philosophischen Kenntnissen noch weitergehende Auskünfte hätte geben können.
Insgesamt eine ausgesprochen anregende Lektüre, die noch mehr Fragen verursacht als Antworten gibt. Kein schlechtes Ergebnis.
Hubertus Kohle